Kinder, die lautlos untergehen

Das Phänomen des „stillen Ertrinkens“ hat in dieser Badesaison wieder einige Leben gekostet. Badegäste verwechseln den Überlebenskampf eines Kindes mitunter mit Planschen. Rettungsexperten: Schwimmabzeichen „Seepferdchen“ reicht nicht aus

VON BARBARA DRIBBUSCH

Nur kurze Zeit lässt die Mutter die Siebenjährige an der Krummen Lanke in Berlin-Zehlendorf aus den Augen. Als sie ihre Tochter nicht mehr sehen kann, alarmiert sie sofort andere Badegäste, die das Mädchen im Wasser suchen. Doch später kann das Kind nur noch tot geborgen werden.

Das war in der vergangenen Woche – eine von vielen Ertrinkungstoten, die einem Phänomen zuzuschreiben sind, vor dem Rettungsexperten jetzt wieder warnen: dem so genannten stillen Ertrinken. Dabei stirbt ein Mensch, obwohl Wasser und Ufer voll sind mit anderen Leuten.

„Kinder, die in Not geraten, schlagen zwar mit den Armen um sich. Von anderen Erwachsenen aber wird das manchmal als Spiel interpretiert, weil die Kinder nicht mehr schreien können, wenn der Mund erst mal unter Wasser ist“, schildert Rolf Lüke. Lüke ist Gründer der Bremer Organisation „blausand.de“, die sich für die Prävention von Ertrinkungsunfällen einsetzt. Unter den „blausand“-Mitgliedern finden sich auch Eltern ertrunkener Kinder. Lüke selbst hat seine Schwester durch den Wassertod verloren.

Der von Lüke interviewte US-amerikanische Wasserrettungsexperte Frank Pia hat Videos erstellt, die dazu beitragen sollen, ein Kind in Lebensgefahr von einem nur harmlos planschenden Menschen zu unterscheiden. „Die übliche Vorstellung ist, dass ein Schwimmer in einer Notsituation dadurch auf sich aufmerksam macht, dass er um Hilfe ruft und Zeichen gibt. Ein Mensch, der ertrinkt, ist aber in der konkreten Gefahrensituation überhaupt nicht mehr fähig zu schwimmen und sich über Wasser zu halten“, erklärt Pia.

Selbst wenn der Betroffene kurz wieder mit Mund oder Nase an die Oberfläche komme, müsse er Luft holen und könne daher nicht schreien. Dieser Kampf dauert laut Pia nur zwischen 30 und 60 Sekunden, dann versinkt der Mensch im Wasser.

Ist ein Kind erst mal untergegangen, blieben vielleicht noch „3 bis 4 Minuten“, um es zu retten, so Lüke. Eine niedrige Wassertemperatur erhöht dabei die Überlebenschancen, denn damit wird der Sauerstoffbedarf von Herz und Gehirn gesenkt. Umgekehrt sind die derzeit herrschenden hohen Wassertemperaturen ungünstig, wenn ein Mensch keine Luft mehr bekommt. Werden Kinder nach längerer Zeit gerettet, bleiben oftmals irreparable Hirnschäden.

Kinder, die nicht schwimmen können, geraten also schon in Gefahr, wenn sie etwa in einem See nur wenige Zentimeter zu weit ins Tiefe gegangen und dabei mit dem Mund unter Wasser geraten sind.

Die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) weist aber auch darauf hin, dass Eltern oftmals die Schwimmfähigkeiten ihrer Kinder überschätzten. So bedeute etwa das Ablegen der Prüfung zum ersten Abzeichen, dem „Seepferdchen“, noch lange nicht, dass ein Kind sicher in einem See schwimmen könne, erklärt DLRG-Sprecher Martin Janssen.

In der Grundschule gibt es beispielsweise in Berlin nur ein Jahr obligatorischen Schwimmunterricht, dann wird das „Seepferdchen“ absolviert, das vorausetzt, dass ein Kind 25 Meter weit schwimmen kann. Danach werde „zu wenig geübt“, rügt Janssen, „das Seepferdchen kann nur ein Einstieg sein“. In vielen Städten fehlten inzwischen die öffentlichen Bäder für den Schwimmunterricht.

Bei einer Emnid-Umfrage im Jahre 2004 gab ein Viertel der Erwachsenen an, nicht schwimmen zu können. Im Jahr 2005 ertranken laut DLRG-Statistik in Deutschland 477 Menschen. Darunter starben 63 Sechs- bis Zwanzigjährige, eine Steigerung um die Hälfte in dieser Altersgruppe. In diesem Sommer starben in Seen und Flüssen schon mehrere dutzend Badegäste.