Eine unbezahlbare Aufgabe

taz-Serie „Prekäre Leben“ (Teil 8): Ehrenamtliche und gemeinnützige Arbeit schafft in Berlin kein Jobwunder. Aber sie bietet Menschen, die anderswo keine Chance haben, eine Perspektive. Warum der dritte Sektor für die Zukunft der Stadt wichtig ist

von ULRICH SCHULTE

Die nächste Landesregierung sollte vielleicht einen Betriebsausflug nach Kreuzberg machen. Sie müsste im Nachbarschaftshaus an der Urbanstraße viele Stufen steigen, durch die Turnhalle der Kita gehen und an die Tür des kleinen Büros von Martin Pannen, 48, klopfen. Sie könnte hier viel über die Zukunft der Stadt lernen – und über BerlinerInnen, auf die sie setzen muss.

Pannen arbeitet für die Freiwilligenagentur des Bezirks, meist ist er jeden Tag da, oft bis abends. Er vermittelt Menschen, die etwas Sinnvolles tun möchten, aber kein Geld dafür fordern. An Organisationen, die auf freiwilliges Engagement angewiesen sind: an den Kinderzirkus oder die Kita im Kiez, an Altenheime oder Hospize.

In Berlin pendelt die Arbeitslosenrate seit einem Jahrzehnt um 17 Prozent. Auch der Senat weiß, dass sich das so schnell nicht ändern wird. Kann der vielbeschworene dritte Sektor (Text rechts) zum Retter in der Not werden? Sicher ist: Gemeinnützige Einrichtungen, Vereine und Freiwilligenarbeit werden kein Jobwunder schaffen, darin sind sich Forscher einig. „Dafür ist der dritte Sektor zu stark von öffentlicher Förderung abhängig“, sagt Eckhard Priller, Soziologe am Wissenschaftszentrum Berlin. Aber er bietet Menschen eine Perspektive – jenseits des Frustes des ersten Arbeitsmarkts.

Der Senat steht hilflos vor dem verworrenen Dickicht der Initiativen, obwohl deren Wichtigkeit in der rot-roten Koalitionsvereinbarung unterstrichen wird. Es gibt keine Erhebung, wie viel Geld wo in welches Projekt fließt. Jede Senatsverwaltung bestellt ihr Gärtchen, jeder Bezirk sowieso. „Eine umfassende Bestandsaufnahme des Dritten Sektors macht noch keinen Sinn. Sie wäre zunächst nur ein Datenfriedhof“, sagt Susanne Ahlers, die Staatssekretärin der Arbeitsverwaltung. „Wir sind noch nicht so weit, um daraus Maßnahmen abzuleiten.“ Selten gibt eine Regierung ihre Planlosigkeit so offen zu. Als Bilanz nach fünf Jahren Rot-Rot bleibt Stückwerk. Die ein oder andere Infoveranstaltung, Öffentlichkeitsarbeit, günstige Kredite für Genossenschaftsgründer.

Dabei eröffnen Bürgerschaftsengagement und Solidarität einer verarmten Stadt neue Chancen. „Hier beschäftigen sich ungewöhnlich viele Initiativen mit Phänomenen der Arbeitslosigkeit“, sagt Priller. Zwischen 2000 und 2003 bekamen 1.000 Initiativen jährlich öffentliches Geld zur Arbeitsförderung. Wie kleine Pflänzchen winden sie sich in jede noch so enge Spalte des zubetonierten Jobmarkts. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Interessenvertretung der Arbeitenden, bietet in Marzahn-Hellersdorf ein Kiezprojekt an, in dem Arbeitslose Arbeitslose beraten. Der dritte Sektor passt sich an die Probleme an.

Fast 60 Prozent der Interessenten, die zu Martin Pannen in die Sprechstunde kommen, haben keine Arbeit. Allein in Kreuzberg beraten er und seine Kollegen 200 Freiwillige im Jahr, jeder Bezirk hat eine eigene Agentur. „Die Menschen suchen eine Aufgabe, Kontakte und Anerkennung. Denn ohne gehen sie kaputt“, sagt Pannen. Eine alte Dame blüht auf, seitdem sie Kindern in der Kita vorliest. Ein Langzeitarbeitsloser gewinnt Selbstbewusstsein, weil er alte Menschen betreut.

Doch das Thema Arbeit ist nur ein winziger Teil des Sektors. Berlin bildete dafür lange ein Biotop. In den 80er-Jahren, als sich noch ein Subventionsregen auf die Stadt ergoss, entwickelte sich eine unüberschaubare Zahl von Initiativen. Über die lässt sich auch heute, nach harten Kürzungen, noch sagen: Es gibt nichts, was es nicht gibt. Im Vergleich zu anderen Bundesländern stehe die Stadt noch gut da, so Staatssekretärin Ahlers.

Auch wenn viele Zahlen fehlen: Es lassen sich Trampelpfade in dem Biotop überblicken. So nimmt seit Jahren die Zahl der Vereine zu. Das Vereinsregister am Amtsgericht Charlottenburg verzeichnete 2003 rund 17.700 Klubs, aktuell sind es 19.600. Die Gründer kümmern sich neben Dackelzucht und Gummistiefelweitwurf vor allem um eines: ihre Mitmenschen. „Viele Vereine reagieren auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sie organisieren Nachbarschaftshilfe, Schuldnerberatung oder Treffs für Arbeitslose“, sagt Rechtspflegerin Hannelore Müller.

Die Utopie als Vereinszweck belegt, dass die BerlinerInnen Verantwortung übernehmen wollen. Für ihren Kiez, gelangweilte Jugendliche, den Nachbarn auf Jobsuche, der sonst vorm Fernseher hocken bliebe. Das freiwillige Engagement der BerlinerInnen hat von 1999 bis 2004 um 5 Prozent zugenommen, so eine landeseigene Studie. Sie packen auch oder vielleicht gerade deshalb mit an, weil Rot-Rot sämtliche Sozialtitel gekürzt hat, um die Stadt aus dem Schuldensumpf zu zerren.

Fachleute vor Ort äußern dabei immer die gleiche Kritik: Die Regierung kürzt um des schnellen Spareffektes willen. Sie vergesse, dass sich dies in wenigen Jahren räche. Ein Beispiel von vielen: Der Senat hat 2002 noch 450 Millionen Euro für erzieherische Hilfen für Jugendliche ausgegeben, in diesem Jahr sind es 300 Millionen. „Bei der Jugendhilfe ist es sinnvoll, mehr Geld in präventive Arbeit zu investieren, weil es spätere Erziehungmaßnahmen spart“, sagt Oswald Menninger, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Gleichzeitig schiebt der Senat dem dritten Sektor teure Aufgaben zu, die sich das Land nicht mehr leisten kann. Die Übertragung der bezirklichen Kitas an freie Träger, ein wichtiges rot-rotes Projekt, ist eine gigantische Sparmaßnahme – durch die der dritte Sektor staatliche Aufgaben schultert. Soziologe Priller beobachtet die sozialpolitischen Verlagerungen mit gemischten Gefühlen: „Sie steigern zwar die Bedeutung des dritten Sektors. Doch sie machen die Leistungen auf lange Sicht nicht besser.“

Einerseits kümmert sich die Politik kaum, andererseits ruft sie in höchster Not. Hinter dieser Widersprüchlichkeit vermutet Priller ein tieferes Motiv als Planlosigkeit. „Wenn sie den Bereich konsequent fördert, verliert sie an Einfluss.“ Und der Politiker, der freiwillig Macht abgibt, ist ein seltenes Exemplar. Priller vermisst ein Konzept, den Abbau bürokratischer Hürden, vor allem aber langfristige öffentliche Förderung. „Ob Bildung, Integration oder Armut: In Berlin gibt es genug Probleme, die der dritte Sektor aufgreifen könnte.“