Gesellschaft unter Druck

Der Krieg überlagert derzeit alle konfessionellen Gegensätze im Libanon. Doch wenn ein Waffenstillstand nicht bald für Ruhe sorgt, könnten sie auch wieder zur Explosion führen

Eine internationale Friedenstruppe wird dem Libanon keine langfristige Lösung bringen können Das Schicksal des Libanon hing stets von seinen Nachbarn und internationalen Mächten ab

Selten ist in diesen Tagen in Beirut offene Kritik an der Hisbollah zu hören. Dabei war die „Partei Gottes“ vor der Geiselnahme zweier israelischer Soldaten, die die israelische Offensive ausgelöst hat, bei vielen Libanesen unbeliebt – sei es wegen ihres regelmäßigen Raketenbeschusses auf Israel, wegen ihres Militärmonopols im Südlibanon, wegen ihrer Treue zu Syrien und Iran oder wegen ihres konservativ-islamistischen Gesellschaftsmodells.

Doch momentan halten sich die kritischen Stimmen zurück. Selbst Vertreter der Partei der Demokratischen Linken, die ideologisch wenig mit der Hisbollah teilen, wünschen ihr jetzt einen Sieg herbei. Laut einer Umfrage der libanesischen Zeitung Assafir unterstützen derzeit 87 Prozent der Libanesen den Kampf der Hisbollah gegen Israel. 70 Prozent der Befragten heißen sogar die Gefangennahme der beiden Soldaten gut. Das bedeutet nicht, dass nun fast alle Libanesen das politische und gesellschaftliche Projekt einer radikalislamischen Partei befürworten – dafür bleibt das Land viel zu pluralistisch. Es ist nur ein Zeichen dafür, dass das Austragen politischer Differenzen auf später verschoben wird und sich das Land gegen Israel vereint. So berichten auch libanesische Helfer, die die Flüchtlinge in Beiruts Schulen und Parks mit dem Nötigsten versorgen, dass sie momentan lieber nicht über Politik diskutieren, um nicht die Spaltung in Hisbollah-Anhänger und -Kritiker zu befördern.

Die momentane Lage im Libanon bietet ohnehin schon genügend Konfliktstoff. Auch wenn das oft gezeichnete Bild von den reichen Christen und Sunniten und den armen Schiiten stark vereinfacht ist, so sind es eben doch hauptsächlich Schiiten, die durch die Bombardierungen und Gefechte vertrieben werden. Viele, längst nicht alle, sind Hisbollah-Anhänger. Die Reicheren unter ihnen können es sich leisten, Hotelzimmer in Beirut oder Wohnungen in den Sommerressorts in den Bergen zu mieten. Übrig bleiben die Mittellosen, in Schulen mit mehreren hundert Menschen auf engstem Raum untergebracht.

In Beirut müssen sie nicht weit gehen, um zu den leer stehenden Luxusappartements der Hauptstadt zu kommen – nicht auf Flüchtlingsströme, sondern auf den größten Touristenansturm seit dem Krieg hatte sich Beirut in diesem Sommer eingestellt. Erste Geschichten von aufgebrochenen Türen und dem verstärkten Einsatz von privaten Wachfirmen konkurrieren in der libanesischen Presse noch mit Berichten über spontan gebildete Hilfskomitees und religionsübergreifende Nachbarschaftsinitiativen zur Unterstützung der Flüchtlinge. Doch wie lang werden diese es in ihren Notunterkünften aushalten? Wie lang werden die Energie und die Verfügbarkeit der freiwilligen Helfer reichen? Wo können Flüchtlinge untergebracht werden, wenn im September die Klassenräume der über 600 Schulen wieder für den Unterricht genutzt werden sollen?

Bürgerkrieg ist gewiss nicht ewiges und natürliches Schicksal des Libanon, genauso wenig wie die Kriege und Unruhen in diesem Land reine Stellvertreterkriege waren. Immer waren regionale und internationale Kräfte ganz entscheidend an Ausbruch und Fortgang der Konflikte beteiligt. Doch die gesellschaftliche und politische Struktur des Libanon, in der Klientelbeziehungen und konfessionelle Zugehörigkeiten immer noch eine große Rolle spielen, begünstigen die Allianzen einzelner libanesischer Gruppierungen mit äußeren Mächten; die Konkurrenz wandelte sich in Krisenzeiten oft zum bewaffneten Konflikt.

Heute wollen sich vor allem viele junge Libanesen nicht mehr über ihre Konfessionszugehörigkeit bestimmen lassen. Sie haben genug von einer Politikerriege, die zum Teil auch schon den letzten Krieg angezettelt hat. Doch in den vergangenen Monaten haben zwei Zwischenfälle gezeigt, dass Konflikte immer noch entlang konfessioneller Linien verlaufen können: Im Februar führten Proteste gegen die dänischen Mohammed-Karikaturen zu erheblichen Sachbeschädigungen in einem christlichen Beiruter Viertel. Und im Juni zündeten Hisbollah-Anhänger aus Empörung über eine satirische Darstellung von Generalsekretär Hassan Nasrallah, die von einem christlichen Fernsehsender ausgestrahlt wurde, öffentlich Reifen an. Bei beiden Anlässen wurde aber auch deutlich, dass auf allen Seiten der Wille zur Eindämmung dieser Konflikte bestand – die Hisbollah stellte in letzterem Fall sogar Wachen vor Kirchen auf, um Übergriffe zu vermeiden. Ob sie im Moment für solche Wachen den politischen Willen und die entsprechenden Leute hätte, ist eine andere Frage.

Wenn schiitische Flüchtlinge merken, dass ihre Unterstützung der Hisbollah bei ihren neuen Nachbarn nicht auf Gegenliebe stößt; wenn andere Bevölkerungsgruppen ihren Zorn über die israelische Offensive auf die Hisbollah als Auslöser dieser Offensive übertragen – dann ist wieder diese Mischung aus sozialen, politischen, konfessionellen und regionalen Konflikten gegeben, die in der libanesischen Geschichte schon mehrfach explosiv war. Waffen dürften jedenfalls in allen Lagern noch genug vorhanden sein.

Ein Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah, um politische Verhandlungen möglich zu machen, und eine möglichst schnelle Verbesserung der Lage der Flüchtlinge ist dringend nötig. Sie dürften auch im besten Fall sicherlich noch mehrere Wochen auf die Wiederherstellung von Straßen, Wasser- und Stromleitungen warten müssen, vom Wiederaufbau ihrer Häuser ganz zu schweigen. Nur so kann aus dem brodelnden Kessel der libanesischen Gesellschaft etwas Druck abgelassen werden, bevor er explodiert.

Eine internationale Friedenstruppe mag momentan als der einzig gangbare Weg erscheinen, um einen Waffenstillstand zu sichern – eine langfristige Lösung bringt sie nicht. Zunächst stellt sich die Frage, ob diese Soldaten nicht alle Feinde einer westlichen Präsenz im Nahen Osten anziehen würden und sich irgendwann kläglich zurückziehen müssten. Zur Erinnerung: Die Multilateralen Streitkräfte im Libanon suchten 1984 nach schweren Verlusten durch Gefechte und Selbstmordattentate das Weite – der Krieg ging noch sechs Jahre weiter. Vor allem aber löst die Truppenpräsenz nicht den innerlibanesischen Konflikt über die Haltung zu Israel und Syrien und über die Waffen der Hisbollah.

Der im März begonnene „nationale Dialog“, in dem führende Politiker aller Couleur diese Fragen lösen sollten, ist gescheitert. Voraussetzung für neue Verhandlungen wäre, dass allen Akteuren ein unabhängiger Libanon und eine geeinte Gesellschaft wichtiger sind als die Privatinteressen ihrer Partei. Zumindest bei Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah sind Zweifel angebracht: Ihm scheint der Kampf gegen Israel oberste Pflicht, seine Allianzen zu Syrien und Iran wichtiger als die libanesische Zivilbevölkerung. Je geringer der internationale Druck zum Erhalt des Libanon als souveränem Staat, desto mehr dürfte er sich im Recht fühlen.

ANNE-FRANÇOISE WEBER