DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Begegnung der unheimlich schnellen Art

Wir waren Camper. Wir standen im Wald. Wir warteten. Wir hatten ja keine Ahnung, was da auf uns zukam

„Grüzi miteinand‘“, mit diesen Worten begrüßte ich die Wartenden am Campingplatz in St. Moritz. Vor dem Verkaufskiosk hatte sich morgens um acht Uhr eine lange Schlange gebildet. Die Wartenden nickten mir zu, ich reihte mich hinten ein und wartete auf meine Bestellung vom Vortag: ein Croissant und zwei frische Weckli. Was für ein Service! Frische Brötchen mitten im Wald! Das dachten viele, denn die Schlange war lang geworden.

Ganz nach britischem Vorbild standen wir tatsächlich hintereinander, der Platz vor dem kleinen Kiosk reichte natürlich nicht aus, und so überquerte die Menschenschlange am Campingplatz einen sehr nahe vorbeiführenden Wanderweg. Dies war nichts Ungewöhnliches. Schon vor Jahren fiel mir bei meinen morgendlichen Dauerläufen diese Schlange auf. Immer wenn ich am Campingplatz vorbeikam, musste ich mich durch die wartenden Camper schlagen. Jetzt also versperrte ich den Weg und wartete. Alle hatten wir am Vortag bestellt. Unsere Namen waren in einer langen Liste eingetragen. Hinter dem Namen war dann die jeweilige Bestellung in verschiedene Kästchen gemalt.

„Guten Morgen“, sagte eine Dame mit freundlichem Lächeln: „Müller, wir hatten ein dunkles Brot, drei Gipfeli, zwei Croissants und vier normale Weckli.“ Die junge Dame im Kiosk fuhr mit dem Finger die lange Liste nach unten und murmelte: „Müller, Müller, Müller, ach ja, hier.“ Sie machte einen Haken hinter dem Namen und gab die Bestellung an eine zweite Dame weiter. Diese stand hinter einer großen Kiste voller Brot und packte eine große Tüte voll. „Für Müller, ein dunkles, drei Gipfeli, zwei Croissants und vier normale“, wiederholte sie dabei.

Dies dauerte einige Zeit, und die Schlange wuchs von Minute zu Minute.

Als ich ankam, stand ich jenseits des Wanderwegs an Position 12. Nun, nach zwei Minuten war ich an Position 10 vorgerückt – also mitten auf den Wanderweg – und hinter mir warteten schon mehr als weitere acht Personen. „Ich bin der Schorsch und habe zwei Weckli bestellt.“ „Für Hansi drei Weckli und zwei Gipfeli“. So ging es also voran. Ab und an bestellte noch jemand einen Kaffee dazu, das war’s. Unterbrochen wurde dieses immergleiche Ritual nur von einem Mann. Der bestellte sich zu seinen frischen Brötchen noch ein Bier. Bevor er zum Wohnwagen zurückging, trank er es am Tresen lehnend leer.

Plötzlich rauschte von links ein nicht zu identifizierendes Etwas heran. Die Menschenschlange stob auseinander. Ich blickte nach links und sah einen afrikanischer Tropensturm auf mich zukommen, genauer: ein Trupp kenianischer Läufer bei ihrem täglichen „morning run“.

Sie waren auf dem Wanderweg unterwegs, den wir blockierten. Sie kamen gerade aus einem kleinen Wäldchen gelaufen und überquerten eine Absperrung, die für Mountainbiker aufgebaut war, in typischer Hindernissprungtechnik. Wie angewurzelt stand ich mitten auf dem Weg, und sie schossen in unglaublich hohem Tempo auf mich zu. Im letzten Augenblick rettete ich mich mit einem beherzten Sprung zur Seite. Die kenianischen Läufer nahmen von uns kaum Notiz, sondern setzten ihren morgendlichen Dauerlauf einfach fort.

Für kurze Zeit war aus der vorbildlich wartenden Schlange ein Hühnerhaufen geworden, und es herrschte Panikstimmung. Diese legte sich allerdings sehr schnell und wich Bewunderung.

„Das war ein Tempo, was?“, sagte einer. „Und der Sprung“, pflichtete ihm ein anderer bei, „so locker, mühelos.“

Das Campingvolk war begeistert. Vorne am Kiosk nahm alles seinen weiteren Gang. Einer in der Schlange klopfte mir auf die Schulter und fragte: „Und, wann werfen sie wieder ihren Hut in Ring?“ Dabei nickte er dem gerade vorbeikommenden Keniaexpress hinterher.

Ohne auf diese Frage einzugehen, wiederholte ich meine Bestellung vom Vortag: „Für Baumann, ein Croissant, zwei Weckli“ und für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich mir noch „dazu noch ein Bier“, doch zum Ausdruck meiner Freiheit reichte auch ein Kaffee.

Fragen zu Kenia? kolumne@taz.de Morgen: Robin Alexander über SCHICKSAL