WARUM HAT DER GROSSSCHRIFTSTELLER SEINE BIOGRAFIE GEFÄLSCHT?
: Mitleid mit Günter Grass

Günter Grass war Mitglied der Waffen-SS. Ausgerechnet Grass, der die Verdrängung der NS-Zeit scharf geißelte. Unfassbar, schreiben manche, atemlos vor Empörung. Es hagelt Ausrufezeichen und moralische Superlative. Je jünger die Kommentatoren sind, desto markiger fallen die Urteile aus. Doch wenn man den Fall ohne Ausrufezeichen betrachtet, schrumpft der Skandal. Grass war 16 Jahr alt. Er hat keinen Schuss abgegeben und versucht dem Drill zu entkommen, indem er sich selbst mit Gelbsucht infizierte. Und: Die Gefahr 1945, in den letzten Wochen des auf Selbstzerstörung programmierten NS-Reichs in der Waffen-SS als Kanonenfutter zu enden, war ziemlich groß.

Wer genauer hinschaut, der mag eher Mitleid empfinden mit einem von der NS-Ideologie verführten Pubertierenden, den der Ehrgeiz in die Waffen-SS getrieben hat. Der Fall Grass ist kein Fall Schneider. Der war vor 1945 aktiver SS-Mann und wandelte sich in der Bundesrepublik zum freundlichen linksliberalen Literaturprofessor Hans Schwerte. Schneider/Schwerte war ein Symbol für den lautlosen Identitätswechsel der deutschen Elite nach dem 8. Mai 1945. Grass bleibt Grass.

Die einzig interessante Frage lautet insofern: Warum hat Grass seine Biografie gefälscht? Niemand, auch Grass selbst nicht, vermag dies plausibel zu beantworten. Denn es war nach 1945 möglich, von der Verführung durch die Nazi-Ideologie am eigenen Leib zu erzählen. Das hat zum Beispiel Peter Brückner in „Das Abseits als sicherer Ort“ getan. Andere, wie der SPD-Politiker Jürgen Girgensohn oder der Maler Bernhard Heisig, haben öffentlich über ihre Zeit in der Waffen-SS geredet.

Grass hat die Lüge vorgezogen. Warum? Man mag sich ausmalen, wie die Angst, dass der Schwindel auffliegt, in ihm rumort haben mag. Auch das verdient eher Mitleid als das moralische Fallbeil. Dass ausgerechnet Grass, dessen moralische Selbstgewissheit oft marmorn wirkt, nun von moralisch Selbstgewissen verurteilt wird, ist eine Pointe, keine Tragödie. Der Fall Grass steht nicht für die Bundesrepublik, sondern nur für sich selbst. Er ist nicht so wichtig. STEFAN REINECKE