grass, gesinnung etc.
: Hauruck-Moral

Günter Grass hat verschwiegen, dass er 1945 ein paar Monate in der Waffen-SS war. Er war nicht aufrichtig – das mobilisiert derzeit einen Gesinnungsfuror von der Stange. In diesem stickigen Klima können CDU-Hinterbänkler fordern, das Grass gefälligst den Nobelpreis zurückgeben muss. Grass hat den Nobelpreis aber für Literatur, für Fiktionen bekommen – nicht weil er einem protestantischen Authentizitätsideal genügt.

Grass hat nie verschwiegen, dass er mit 17, wie hunderttausende andere, Nazi war. Im Gegenteil: Ohne diese Erfahrung wäre er nie der Schriftsteller geworden, der er wurde. So wie die Nazi-gläubige Christa Wolf oder der Soldat Böll, der gegen die NS-Ideologie auch nicht immun war.

Die Debatte folgt einem Reiz-Reaktions-Schema: Waffen-SS gleich Schuld – Verschweigen gleich Verdrängung von Schuld. In dieser Hauruck-Moral verschwindet das Konkrete, auch Rätselhafte. Was hat Grass getan? Die Waffen-SS war 1945 keine Elite-Terror-Einheit mehr, sondern eine fast eine Million Mann starke Armee. Die Waffen-SS-Division „Frundsberg“, der er drei Monate angehörte, hat 1945 offenbar weder Kriegsverbrechen begangen noch große Schlachten geschlagen.

Das schließt nicht aus, dass Grass einer jener fanatisierten Jungmänner war, die noch im Mai 1945 „Verräter“ ermordeten. Wahrscheinlich aber ist das nicht. Wahrscheinlich ist, dass seine Version, dass er keinen Schuss abgab, stimmt. Sehr viele seines Jahrgangs waren 1945 bei Einheiten der Waffen-SS, teils auch zwangsrekrutiert. Das macht nichts besser, bricht aber – in diesem konkreten Fall – die Aura des exklusiv Bösen, das das Zeichen „SS“ umgibt. Ob man als halb Erwachsener, wie Heiner Müller, beim Reichsarbeitsdienst gedrillt wurde, oder ob man im Volkssturm oder in der Waffen-SS war, das musste im Februar 1945 kein Unterschied ums Ganze sein. Wenn Grass aber keine konkrete Schuld vertuschen musste, warum hat er dann seine Biografie gefälscht? Warum hat er darauf verzichtet, die Metamorphose eines Waffen-SS-Mitglieds 1945 als literarisches Material zu benutzen?

Wer unbedingt protestantisch streng urteilen will, sollte also lieber fragen, ob diese von engherziger Retro-Moral geprägte Debatte nicht Grass’ stille Befürchtung bestätigt: Wer Waffen-SS sagt, hat verloren. Dies ist wohl die letzte NS-Debatte der Republik. Sie wirkt wie eine Parodie jener NS-Debatten, aus denen sich der moralische Kern der Republik gebildet hat.

STEFAN REINECKE