„Wir haben es aus den Medien erfahren“

Seitdem Günter Grass offenbart hat, als 17-Jähriger bei der Waffen-SS gewesen zu sein, sind Feuilletons und Bild-Zeitung gleichermaßen in Aufruhr. Im Lübecker Günter Grass-Haus aber bringt die mediale Welle den Alltag kaum durcheinander

von Klaus Irler

In der Buchhandlung Weiland in der Lübecker Innenstadt sind die Schaufenster-Dekorateure noch nicht hinterhergekommen. Der Duden in allen seinen Spielarten liegt dort aus, außerdem eine Phalanx Karriere-Berater. Im hinteren Teil der Buchhandlung dann der Tisch mit der neuen Günter Grass-Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“: Fünf Exemplare waren noch da am Donnerstagnachmittag um 15 Uhr, und der Verkäuferin huscht ein kleines Lächeln übers Gesicht, wenn man sie darauf anspricht: „Die werden sehr gut nachgefragt. Morgen kommt die nächste Lieferung.“

Seit Günter Grass am vergangenen Wochenende per Zeitungsinterview seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS im Alter von 17 Jahren offenbart hat, laufen Feuilletons und Bild-Zeitung heiß. Das Meinungsforschungsinstitut Forsa wurde erst im Auftrag des stern, dann im Auftrag von n-tv tätig, der aktuelle Wasserstand von gestern Nachmittag lautet: 68 Prozent sehen die Glaubwürdigkeit von Grass nicht beschädigt, zwölf Prozent finden, Grass habe an Glaubwürdigkeit verloren. Sogar AOL ist im Umfrage-Rennen mit den Nachrichten: 1. Schumi wird den Großen Preis von Ungarn gewinnen (75 Prozent), 2. Grass soll den Nobelpreis behalten (auch 75 Prozent).

Aber im Günter-Grass-Haus in Lübeck herrscht an diesem Donnerstagmittag große Ruhe. Es ist ein Altbau, man geht durch den kleinen Museumsshop in einen idyllischen Innenhof, in dem ein knorriger Baum neben der Plastik „Butt im Griff“ steht. Das Hauptgebäude an der Stirnseite des Hofes ist gut klimatisiert und ein Stockwerk hoch.

Die einzige Reminiszenz an die Neuigkeit ist ein nicht improvisierter Pressespiegel in Form von Zeitungsseiten der letzten Tage, die Grass’ Bekenntnis verhandeln. Sie alle hängen an einer improvisierten Folie rechts hinter dem Eingang. Auffällig ist: Es sind tatsächlich immer ganze Seiten, nicht nur einzelne Artikel. Vielleicht 30 an der Zahl, und vor allem das, was Anfang der Woche kam. Anders geht es da der Sonderausstellung mit Hermann Hesses Aquarellen, die derzeit im Günter Grass-Haus läuft: Mehr als neun kleine Artikel sind es nicht geworden.

Und trotzdem ist Hermann Hesse wichtig für das Günter Grass-Haus. Das nämlich wurde 2002 eröffnet und „soll kein Grass-Mausoleum sein“, sagt der Leiter des Hauses, Kai Artinger. Es geht im engen Sinn um die Doppelbegabung von Günter Grass, der sich ja auch als Lithograph und Bildhauer einen Namen gemacht hat. Also kreist die Dauerausstellung um das Neben- und Ineinander von schöpferischen Prozessen beim Schreiben, Zeichnen und Bildhauen. Außerdem legt das Grass-Haus Wert darauf, neben der Grass-Dauerausstellung immer wieder andere doppelt Begabte zu zeigen – wie Hesse und seine Aquarelle.

Aber ganz geht die Aufregung natürlich nicht an dem kleinen Museum vorbei, schon deswegen nicht, weil der reale Günter Grass sein Sekretariat zwei Stockwerke über dem Museumsshop hat und dort auch zu seinen Sprechzeiten anwesend ist. Momentan freilich nicht. Grass weilt auf der dänischen Insel Møn. Aber seine Aura ist im Günter-Grass-Haus schon mal da. Außerdem glauben viele, sie könnten ihre persönlichen Anliegen über das Museum an Günter Grass schicken. Doch „das Haus agiert unabhängig vom lebenden Künstler“, sagt Artinger. Von Grass’ Zeit bei der Waffen-SS „haben wir aus den Medien erfahren“.

Danach kam dann beispielsweise ein Kamerateam von N24, erzählt der Wärter, und hat das Gästebuch im Ausstellungsraum gefilmt. In dem steht: „Solch eine Offenheit ist bewundernswert“ oder: „Günter, lass Dich nicht unterkriegen!“ Ein Quäntchen Grass-Kritik gibt es nur in einem Beitrag, der lautet: „Ich habe die Zeitungen heute gelesen. Das einzige Problem: Warum so spät?“

Ansonsten widmen sich deutlich über die Hälfte der Einträge seit Samstag nicht Grass, sondern der Hesse-Ausstellung. Auf die führt Leiter Kai Artinger auch den leichten Besucher-Anstieg in den letzten Tagen zurück, und tatsächlich ist von den wenigen Besuchern zu hören: „Ich bin hauptsächlich wegen Hesse hier.“ Oder: „Wir wären auch so gekommen. Die Debatte hat das nur beschleunigt.“

Das Online-Gästebuch des Günter Grass-Hauses hat sich offensichtlich zu einem Diskussionsforum entwickelt, einem, in dem ein ganz erstaunliches Bewusstsein für Umgangsformen zu beobachten ist: „Sehr geehrter Herr Vergin, ist es nicht erstaunlich, daß Sie sich offensichtlich über die von mir geäußerte Meinung so ereifern, daß Sie Dinge hineininterpretieren, die ich so nicht geäußert habe? …“ heißt es da.

Leiter Kai Artinger sagt: „Die Stimmen, die die Debatte für überzogen halten, haben recht.“ Er wird nun bei dem tabellarischen Lebenslauf im Eingangsbereich tätig werden. „1943 - 45 Flakhelfer und Panzerschützer“ steht da. Artinger wird das korrigieren.