Berlin hatte Angst vor Kurnaz

Wie die rot-grüne Bundesregierung im Oktober 2002 dazu kam, den Bremer Murat Kurnaz weiter im US-Lager Guantánamo schmoren zu lassen

AUS BERLIN WOLFGANG GAST

Die Entscheidung, dass Murat Kurnaz trotz erwiesener Unschuld noch weitere dreieinhalb Jahre im US-Gefangenenlager Guantánamo verbringen muss, fällt am 29. Oktober 2002. Die Bundestagswahl, die Rot-Grün knapp gewann, ist gerade einmal vier Wochen her. Wie jeden Dienstag beginnt um zehn Uhr im Lagezentrum im vierten Stock des Kanzleramtes die sogenannte nachrichtendienstliche Lage, an der regelmäßig die Sicherheitsbehörden sowie Innen-, Außen- und Justizministerium teilnehmen. Üblicherweise trägt als Erster der Präsident des Bundesnachrichtendienstes die Erkenntnisse seines Geheimdienstes vor. August Hanning, heute Staatssekretär im Bundesinnenministerium, gilt als eloquenter Redner.

Die wirklich heiklen Entscheidungen fallen allerdings drei Stockwerke weiter oben – bei dem „Präsidentenrunde“ genannten Treffen, das im Anschluss an die „Lage“-Besprechung stattfindet. Im erlauchten Kreis vertreten sind Chefs von BND und Bundeskriminalamt (BKA), der Präsident der Kölner Verfassungsschutzbehörde (BfV) und die wichtigsten Staatssekretäre. Thema der Runde: Wohin soll Kurnaz ausgeflogen werden? Die USA fragen an.

Als Erster ergreift der BND-Präsident Hanning das Wort. Er plädiert für Abschiebung in die Türkei, nicht nach Deutschland. Er regt zudem eine Einreisesperre für Kurnaz an, die sicherstellen soll, dass Kurnaz nicht mehr zurück in sein altes Umfeld kann. Das Kanzleramt, dessen Vertreter der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist, und das Innenministerium schließen sich dieser Meinung an: Ein Guantánamo-Heimkehrer könnte als Märtyrer ein Sicherheitsproblem, vielleicht auch ein Propaganda-Desaster werden.

Soweit die Darstellung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, das sich auf schriftliche Aufzeichnungen der Sicherheitsbehörden beruft. Die Bundesregierung hat den Bericht von Ende März 2006 bis heute nicht dementiert.

Dass mit Murat Kurnaz ein Unschuldiger als sogenannter illegitimer Kombattant in US-Haft einsitzt, muss den Entscheidungsträgern zu diesem Zeitpunkt klar sein. Schon am 21. September 2002 setzt sich eine Delegation aus Verfassungsschutzmitarbeitern und BND-Bediensteten in Richtung Guantánamo in Bewegung. Der brisante Auftrag: Kurnaz vernehmen – immerhin steht der Vorwurf im Raum, die Inhaftierungen seien rechtswidrig. Die Verhörpraktiken überschritten die Grenze zur Folter.

Zwei Tage packt Häftling „JJJFA“, wie Kurnaz auf dem US-Stützpunkt heißt, aus. In einem darüber verfertigten Protokoll, das der BND dem Kanzleramt zuleitet, heißt es laut Spiegel: Die Experten seien „zu der Überzeugung gelangt, dass Kurnaz lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort war, jedoch nichts mit Terrorismus, geschweige denn mit al-Qaida zu tun hat“. Ähnlich schätzt der US-Dienst CIA die Causa Kurnaz ein. In einem fünfseitigen Verfassungsschutzvermerk vom 8. Oktober 2002 heißt es laut dem Magazin, Kurnaz könne „damit rechnen, zur ersten Gruppe zu zählen, die freigelassen wird. Dies könnte bereits in naher Zukunft erfolgen.“

Die für Kurnaz so folgenreiche Entscheidung der „Präsidentenrunde“ keine vier Wochen später wird in einem Schreiben des Verfassungsschutzes mit Datum vom 8. November 2002 dem US-Geheimdienst CIA übermittelt. Das BfV teilt mit, „aus deutscher Sicht bestehe der Wunsch, dass nach einer eventuellen Freilassung Murat Kurnaz nicht nach Deutschland zurückkehre“.

Die Amerikaner sind mehr als irritiert. Die „Entscheidung der Bundesregierung“, dass Kurnaz nicht nach Deutschland abgeschoben werden solle, heißt es in einem internen BND-Vermerk, stoße auf „US-Seite auf Unverständnis. Freilassung sei wegen seiner nicht feststellbaren Schuld sowie als Zeichen der guten Zusammenarbeit geplant gewesen“.

Die Opposition will nun vor dem BND-Untersuchungsausschuss klären lassen, warum die rot-grüne Regierung die große Chance verstreichen ließ, Kurnaz Ende 2002 freizubekommen. Gefragt sind neben dem heutigen Außenminister Steinmeier vor allem der damalige BND-Präsident August Hanning und sein Amtsnachfolger Ernst Uhrlau, damals der Koordinator der Geheimdienste. Man darf gespannt sein, wie sie Murat Kurnaz erklären wollen, warum er in Deutschland nicht erwünscht war.