„Da entsteht eine Menge Schweigen“

Der gefeierte finnische Choreograf und Tänzer Tero Saarinen gastiert mit seiner 2004 geschaffenen Choreografie „Borrowed Light“ in Hamburg. Grundlage waren Gestik und Lieder der Shakers-Sekte. Weiteres Thema: Die Spannung zwischen Gemeinschaft und Individuum

„Wir Finnen sprechen nicht viel. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass wir Tänzer werden.“ Tero Saarinen weiß, wovon er spricht, entstammt er doch einem Land, das er als „extrem schweigsam“ bezeichnet. Und als Land der Extreme: „Wir reagieren sehr sensibel auf Licht“, sagt der international gefeierte Tänzer und Choreograf. „Denn acht Monate des Jahres bringen wir aufgrund unserer geografischen Lage bei Kunstlicht zu. Da entsteht schon viel Schweigen.“

Kaum erstaunlich also, dass die Choreografie, mit der er jetzt auf Kampnagel in Hamburg gastiert, „Borrowed Light“ heißt. Womit er nur mittelbar die Sehnsucht des finnischen Volkes nach Licht meint. Die akute Inspiration erbrachte eine von der Shakers-Sekte inspirierte Choreografie seiner Kollegin Doris Humphrey im Jahr 1989.

Ihre ekstatischen Schüttelbewegungen haben den Gläubigen, die sich 1772 erstmals in Großbritannien zusammenfanden, den Namen „Shakers“ beschert. Der konkrete Titel von Saarinens Choreografie spielt auf die von den Shakers in Zimmertüren eingebauten Glasscheiben an, die der besseren Nutzung des Lichts dienen sollen.

Doch bei solch vordergründiger Lichtmystik belässt es Tero Saarinen nicht: In seinem Stück reflektiert der 1964 geborene ehemalige Solist des finnischen Nationalballetts den Umgang mit Gemeinschaft. „Mich interessiert, wie religiöse Strenge die Auslöschung des Individuums befördern kann.“ Zudem trage das Thema durchaus autobiografische Züge: „Als ich 1996 meine Compagnie gründete, habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich meiner Verantwortung für die Tänzer und ihre kurze Karriere gerecht werden kann. Welche Opfer das Individuum für die gemeinsame Sache bringen muss.“ Sein Fazit: „Transparenz ist stets am wichtigsten.“ Und Personalisierung, gelegentlich: In „Tero Saarinen Company“ hat sich die Gruppe 2002 umbenannt; zuvor waren die Tänzer unter dem Namen „Toothpick“ (Zahnstocher) aufgetreten.

Und ihr Gründer? Ist gelegentlich als „Abbild eines asketischen Heiligen“ beschrieben worden. Als einer, der eher einem Guru als einem Choreografen gleicht. Und eigentlich ist das konsequent, hat er doch in etliche Stücke schamanische Elemente gewoben und 1992 ohne Not die Solistenkarriere gegen ein Studium des stark rituellen, japanischen Butoh-Tanzes vertauscht. Auch in Nepal hat er eine Zeit lang spirituelle Choreografien studiert.

Saarinen verwob sie alle: Klassisches Ballett, westlicher Ausdruckstanz und eben jener Butoh-Tanz treffen sich in seinen Stücken – eine sehr individuelle Mixtur. „Tanz ist mein Versuch, die Natur des Menschen in ihren vielen Facetten zu begreifen. Außerdem glaube ich an eine ständig fortschreitende Evolution und bin sicher, dass wir in Körper und Seele das Erbe unserer Vorfahren speichern“, sagt Saarinen. Dem Unerklärlichen und Unbenannten möchte er sich nähern, möchte – wie in „Borrowed Light“ – Tanz und Musik ganz konkret vereinen: Eine Mixtur aus Tänzern und Sängern alter Shaker-Lieder hat er für diese Stück geschaffen.

Wie er je zum Tanzen kam? „Mein Vater war Sport-Freak“, erzählt Saarinen. „Er wollte, dass ich so ungefähr jeden Sport ausprobierte, den es gibt.“ Was der Sohn auch tat – um sich mit 16 für den Tanz zu entscheiden. „Es war Liebe auf den ersten Blick.“

Petra Schellen

31.8., 1.+2.9., jeweils 20 Uhr, Kampnagel, Hamburg