Eklat bei erster Jungskonferenz

Das vermeintlich starke Geschlecht hat massive Lernprobleme. Die öffentliche Annäherung ans Thema ist konfliktreich

BERLIN taz ■ Es hat lange gedauert, ehe die Lese- und Lernblockaden von Jungen zum Konferenzthema wurden. Als es gestern endlich so weit war, kam es prompt zu einem kleinen Eklat. Stefan Wendel, Lektor des Thienemann-Verlags, erläuterte gerade, dass dröge Themen männliche Jugendliche kaum fürs Lesen begeistern könnten. „Sobald aber von Masturbation die Rede ist …“, sagte Wendel – da entzog ihm das Publikum das Wort. „Das möchte ich nicht hören“, echauffierte sich eine Teilnehmerin, „der Herr soll zum Thema zurückkehren.“

Kehrte er aber nicht. Denn der Moderator der Konferenz „Eine Schule für Mädchen und Jungen“, zu der die Präsidentin der Kultusminister, Ute Erdsiek-Rave, eingeladen hatte, versuchte das in Teilen empörte Publikum erst zu besänftigen. Und dann vergaß er, den preisgekrönten Jugendbuch-Lektor seine These zu Ende führen zu lassen.

Der Fauxpas ist nicht nur Zufall, sondern hat auch System. Die Pisa-Studie hat schon im Jahr 2001 hat auf das weltweite Phänomen der miserablen männlichen Schüler aufmerksam gemacht. Sie lesen weniger gern und viel schlechter, fallen öfter durch, verlassen die Schule ohne Abschluss. Eine Debatte aber mag hierzulande nicht recht in Gang kommen. Auch nicht gestern, bei der Konferenz in der schleswig-holsteinischen Botschaft in Berlin.

„Diese Sprache können die Jungen aus dem Effeff“, rügte eine Lehrerin die vermeintlichen Sexismen, „das müssen die nicht auch noch in Büchern lesen.“ Auch auf dem Podium hatte der offenherzige Lektor nicht nur Freunde. „Bei mir gehen alle Alarmanlagen los, wenn ich schon den Titel Ihrer Jungsreihe höre“, sagte Barbara Koch-Priewe von der Uni Dortmund. Die Pädagogin stieß sich an der Sparte „Für Mädchen verboten“. Diese Jugendbelletristik des Thienemann-Verlags greift in deren Sprache auf, was pubertierende Jungen umtreibt. „Verdammt, sie liebt mich“ heißt ein Titel, ein anderer „Weiberalarm Stufe rot“.

Mit solchen Dingern kann man feministisch überkorrekten Lehrerinnen nicht kommen. Dass die ungestümen Burschen ihre Bedürfnisse in einer anderen Sprache thematisieren, ist in ihrem Lehrplan nicht vorgesehen. Gestern wurde sogar abgelehnt, eine reflexive Koedukation in der Schule zu praktizieren. Das bedeutet, Jungs und Mädchen zeitweise in bestimmten Fächern zu trennen und sie dabei auch über ihre eigene Rolle nachsinnen zu lassen. „Der gemeinsame Unterricht für Jungen und Mädchen ist die richtige Lösung“, lehnte das eine Teilnehmerin barsch ab. „Warum muss das eigentlich sein, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Bücher lesen?“, fragte sie.

Da fühlte sich Kultuspräsidentin Erdsiek-Rave in der Pflicht. Sie forderte, offen zu diskutieren. Denn das Problem sei unbestreitbar: „Das katholische Arbeitermädchen vom Lande, die Schulbenachteiligte der 60er-Jahre, hat einen Nachfolger: den türkischen Großstadtjungen. Der hat ein hohes Risiko, in der Schule zu scheitern.“ Auch der Kieler Geschlechterpädagoge Uwe Sielert bat, die zeitgemäße Sprache einer neuen Jungspädagogik und -literatur nicht absichtlich misszuverstehen. Die angeblich harten Burschen bräuchten beides, die Sensation und die Gefühlsebene. „Wir müssen zum Beispiel die Schwächen und die Hilflosigkeit der Jungs in gruseligen Situationen zum Thema machen.“

Stefan Wendel mochte für die Situation in der Schule keine Tipps geben. Die Leseungleichheit kennt er nur aus Verlegersicht. 4,6 Millionen Bücher hat Thienemann an die weibliche Zielgruppe („Freche Mädchen“) verkauft. Von dem gerade entstehenden Genre Jungsliteratur sind es gerade mal 200.000. Die Debatte hat erst begonnen.

CHRISTIAN FÜLLER