In die Trauer mischt sich Wut

Eine neue Untersuchung bringt die Hinterbliebenen von Beslan gegen Moskau auf

Granaten der Sicherheitskräfte brachten die Decke der Schule Nr. 1 zum Einsturz, so der Bericht Saweljews

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Die Teilnahme von Politikern oder Kreml-Abgesandten haben sich die Hinterbliebenen verbeten. Auf die Sekunde genau um 7.15 Uhr unserer Zeit läuteten gestern die Totenglocken in Beslan. Die Trauerfeiern am zweiten Jahrestag des Geiseldramas in der südrussischen Stadt werden sich über das ganze Wochenende erstrecken. Aber schon in der Dämmerung drängten sich gestern mehrere hundert Menschen an der Ruine der Schule Nummer 1.

Um dieselbe Zeit vor zwei Jahren, am 1. September 2004, hatte ein dem tschetschenischen Terroristen Schamiil Bassajew unterstelltes Terrorkommando im nordossetischen Beslan eine Schule in seine Gewalt gebracht und 1.350 Geiseln genommen. Zwei Tage nach dem Überfall starben 330 Menschen bei dem Versuch russischer Sicherheitskräfte, die Geiseln zu befreien, unter ihnen 180 Kinder. Es war die blutigste Geiselnahme seit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges vor sieben Jahren.

Die Hinterbliebenen kommen seither nicht zur Ruhe. Sie wollen endlich wissen, wie es zu dem Blutbad kommen konnte. Außerdem fordern sie, dass auch Beamte zur Verantwortung gezogen werden, die durch Schlamperei oder Korruption Mitschuld an der Tragödie tragen.

Seit zwei Jahren untersucht ein Ausschuss der Duma Hintergründe und Ablauf des Blutbades. Vorigen Dezember legte die vom Vizevorsitzenden des russischen Parlaments, Alexander Torschin, geleitete Kommission einen Zwischenbericht vor. Der sparte jedoch alle Punkte aus, die Kreml, Sicherheitsorgane und Bürokratie in Misskredit hätten bringen können. Enttäuscht meinte eine Aktivistin in Beslan: „Wir haben kein Vertrauen in die offiziellen Stellen, weil sie uns nicht einmal die Wahrheit herausfinden lassen.“

Eine alternative Untersuchung, die der Vizevorsitzende des nordossetischen Republikparlaments, Stanislaw Kesajew, durchführte, ließ schon vor einem Jahr Zweifel an der offiziellen Darstellung aufkommen, die die Schuld an dem Drama allein den Terroristen anlastet. Trotz erheblicher Ungereimtheiten beschränken sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf diese Version.

Dass der Duma-Ausschuss eher dazu dient, die Wahrheit zu kaschieren, bestätigte jetzt der Duma-Abgeordnete Juri Saweljew, der auch dem Parlamentsausschuss angehört. Das dürfte zwar nicht nur ethische Hintergründe haben – seiner rechtspopulistischen Partei stutzte der Kreml soeben die Flügel. Doch als Sprengstoffexperte und Rektor a. D. einer Petersburger Militärhochschule hat sein Urteil in dem Fall Gewicht. Er veröffentlichte in dieser Woche in der Nowaja Gaseta Ausschnitte aus einem 700-seitigen Untersuchungsbericht.

Demnach waren die Explosionen, die die unkoordinierte Erstürmung der Schule durch russische Sicherheitskräfte auslösten, nicht von Sprengladungen der Terroristen im Innern der Schule verursacht worden. Vielmehr sei die Schule, in der sich noch alle Geiseln aufhielten, von außen mit „Schmel“-Flammenwerfern und RShG-1-Granaten beschossen worden. Sie entfachten das Feuer, das die Deckenkonstruktion des Gebäudes zum Einsturz brachte. Die brennenden Deckenteile begruben die Geiseln unter sich. Viele verbrannten bei lebendigem Leibe. Die Sicherheitsorgane hatten den Einsatz und den Beschuss stets abgestritten.

Auch von welchen der benachbarten Gebäude Geschosse abgefeuert wurden, konnte inzwischen ermittelt werden. Juri Saweljew zieht daraus einen beängstigenden Schluss: Die Verantwortlichen hätten nicht versucht, um jeden Preis die Erstürmung zu verhindern. Im Gegenteil, der gewaltsame Einsatz stand von vornherein fest. Nur ein Anlass musste gefunden werden, der nach außen den Eindruck vermittelte, die Sicherheitsorgane würden auf Vorgänge in der Schule reagieren. Das Ansehen der Staatsorgane war das übergeordnete Ziel der Rettungsaktion, nicht das Leben der Geiseln.

Dafür gibt es mehrere Indizien: Der Sturm der Sicherheitskräfte auf die Schule Nummer 1 fällt zeitlich mit der Hilfezusage Aslan Maschadows zusammen. Der ehemalige tschetschenische Präsident hatte sich bereit erklärt, persönlich nach Beslan zu kommen und mit den Terroristen zu verhandeln. So weit sollte es indes nicht kommen. Ein Erfolg hätte den verjagten Expräsidenten aufgewertet und Moskaus Propagandapolitik vom einflusslosen Separatistenchef Lügen gestraft.

Doch damit nicht genug: Die Geiselnahme hätte laut den Papieren Saweljews noch im letzten Moment verhindert werden können: Drei Stunden vorher hatte ein in Tschetschenien Inhaftierter die Behörden vor dem Überfall gewarnt. Das Innenministerium reagierte jedoch nicht, und niemand zog die Beamten zur Rechenschaft.

Überdies geht die offizielle Version von 32 Geiselnehmern aus, in Wirklichkeit müssen es aber über 60 gewesen sein, die in mehreren Wagen anreisten. Wie konnten die Sicherheitskräfte eine so große Zahl von Leuten übersehen, fragen sich deshalb die Hinterbliebenen der Opfer. „Wir wissen seit langem, dass Sicherheitskräfte für den Tod vieler Geiseln verantwortlich sind. Ob zufällig oder absichtlich, ist nebensächlich. Die Generalstaatsanwalt weigert sich aber, Zeugenaussagen aufzunehmen“, meint Murat Kubojew. Der Journalist hat die Ereignisse minutiös dokumentiert.

Dennoch glauben 53 Prozent der Russen laut einer Umfrage des Levada-Zentrums, die Behörden hätten alles getan, um Leben zu retten.