Die Frau versteht das!

Jungskonferenz 2: Wir brauchen keinen Kampf der Geschlechter. Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sind größer als die zwischen ihnen

Müssen Jungs das Lesen mit Büchern lernen, die Frauen entwürdigen?

VON ANNEGRET NILL

Der Mann duckt sich. Beugt sich mit bittendem Gesichtsausdruck nach vorne. Dann lädt er durch, zielt und drückt ab: „Frauen wissen nicht, wie Männer ticken.“ Autsch, eine Breitseite, die sich der Lehrer und Podiumsdiskutant Frank Beuster da gegen Frauen erlaubt. Denn seine pauschale Polemik spricht Frauen jede Möglichkeit ab, das andere Geschlecht zu verstehen. Willkommen beim Kongress „Eine Schule für Jungen und Mädchen“. Der Saal ist zu zwei Dritteln gefüllt, es sind mehr Frauen als Männer da. Denn das Thema geht direkt an die Substanz der Geschlechter- und Frauenforschung. Viele Dozentinnen und Lehrerinnen sind gekommen.

Die meiste Zeit bleibt es jedoch ruhig. Widerstand regt sich erst, als der Lektor Stefan Wendel anfängt, „Literaturvermittlerinnen“ – sprich Mütter, Lektorinnen und Lehrerinnen – pauschal abzuurteilen: „Frei nach Pippi Langstrumpf machen die Literaturvermittlerinnen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt, wie sie aber nicht ist.“ „Das möchten wir nicht hören“, ruft eine Frau aus dem Publikum schließlich, während Wendel erklärt, dass böse Literaturvermittlerinnen Themen wie männliche Masturbation, die Jungs brennend interessieren, in Jugendbüchern verhindern. Nichts Neues also von der Kampffront der Geschlechter. Dabei haben beide Geschlechter momentan genug Probleme: Jungen, besonders aus bildungsfernen Schichten, hinken beim Lesen und in der Schule hinterher und versagen, wenn ohne Abschluss, auf dem Heiratsmarkt. Mädchen tun sich schwer mit Mathematik und Physik und haben Probleme mit der Berufseinmündung sowie der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Noch immer wählen Jungs und Mädchen ihre Schul- und Studienfächer im Rahmen von klischeehaften Geschlechterbildern. So weit die Diagnose, auf die der Kongress reagiert.

Während sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern momentan in den Schulen wieder verstärkt, hat die Forschung längst herausgefunden, dass die Unterschiede innerhalb der Geschlechter viel größer sind als die zwischen den Geschlechtern. Ein Problem ist: Viele neue Fächer werden in der Schule genau in der Phase eingeführt, in der Jungen und Mädchen stark pubertieren und ihre (Geschlechts-) Identität suchen – wobei sie sich zurzeit leider über uralte Geschlechterbilder voneinander abgrenzen. Dieser Prozess sorgt dafür, dass Mädchen sich aus männlich konnotierten Fächern wie Physik zurückziehen. Und Jungs noch weniger lesen, weil Lesen als weiblich gilt. Die Schulprogrammentwicklerin Barbara Koch-Priewe von der Universität Dortmund erklärt: „Das Erstaunliche ist nämlich, dass Jungen und Mädchen sich in Anwesenheit des anderen Geschlechts in der Regel geschlechtsstereotyp verhalten. Das heißt, Mädchen sind auf einmal noch mädchenhafter und Jungen noch jungenhafter.“

Andere Länder zeigen allerdings, dass diese Dynamik so nicht sein muss. Ein praktischer Ansatz an dieser Stelle: reflexive Koedukation. Das bedeutet, dass die Fächer, in denen es für die SchülerInnen in der Pubertät nicht primär um Inhalte geht, sondern um geschlechtliche Abgrenzung, getrennt unterrichtet werden. Damit die SchülerInnen ihre Interessen und Fähigkeiten entfalten können, ohne durch Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees daran gehindert zu werden.

In diesem Punkt nämlich waren sich die anwesenden Podiumsdiskutanten einig: In den Schulen muss das Konzept von „undoing gender“ betont werden. Dazu gehört, dass Jungen in Gebieten gefördert werden, die als „weiblich“ gelten, und Mädchen in Bereichen, die den Stempel „männlich“ tragen. Jungs werden also mehr im sozialen Bereich aktiv – zum Beispiel durch Sozialpraktika, in der Beschäftigung mit den eigenen Emotionen sowie durch spezielle Leseförderung. Mädchen dagegen sollten ihre Praktika in Bereichen machen, die sie eher nicht mögen: in Technikwissenschaften und Informatik.

Zu „undoing gender“ gehört aber auch, dass die LehrerInnen sich ihrer Geschlechterrolle und ihrer Vorurteile bewusst werden. Denn leider werden auch heute noch Mädchen für Bravheit und Fleiß gelobt, während Jungs mit Aufsässigkeit oder Genialität Aufmerksamkeit erlangen. Der Kieler Geschlechterforscher Uwe Sielert und Didaktikprofessorin Koch-Priewe sind sich daher einig: Nur mehr Männer als Vorbilder in den Lehrberuf zu bringen, reicht nicht. Sie müssen ihre eigenen Geschlechterrollen und ihr Verhalten auch reflektieren können. Die Lehrerinnen natürlich genauso. Ihre Lösung: Gender-Reflexionen werden Pflichtbestandteil des Lehrerstudiums. LehrerIn darf dann nur werden, wer das eigene Rollenverhalten kennt und die eigenen Stärken und Schwächen erforscht hat. Denn wie eine Teilnehmerin bemerkte: „Wir wollen unseren Kindern ja nicht jede Art von Lehrer zumuten.“

Dies ist natürlich keine konkrete Antwort auf die Lesenöte von Jungen. Sie müssen extra gefördert werden. Aber: Besteht der einzige Weg, Jungs das Lesen schmackhaft zu machen, tatsächlich darin, ihnen Bücher und Buchreihen auf dem Silbertablett zu servieren, die Frauen und Mädchen ausschließen und entwürdigen – wie Wendel und Beuster implizieren? Vielleicht ist das für einige männliche Risikogruppen mit Macho-Männlichkeitsbild zunächst wirklich der einzige Leseanreiz. Aber dann muss es ein individuell auf diese Gruppe zugeschnittenes Programm geben, das diese pauschale Abwertung des anderen Geschlechts mit den einzelnen Schülern reflektiert. Genau das ist an den heutigen Haupt- und Sonderschulen allerdings kaum zu erwarten.

Gut, dass sich der Kongress als Auftakt einer Reihe versteht. Der Diskussionsbedarf ist nämlich tatsächlich enorm.