Krankenpfleger mit Doktortitel

AUS MANILA HILJA MÜLLER

Es fing mit leichtem Bauchweh am Morgen an. Wenige Stunden später konnte Grace Corugda die Schmerzen nicht mehr ertragen. Verwandte brachten sie ins nächstgelegene Krankenhaus der philippinischen Hauptstadt Manila, die Ärzte diagnostizierten einen Blinddarmdurchbruch. Grace wurde sofort operiert, auf dem Flur betete die Familie. Die junge Frau überlebte nur dank des raschen Eingriffs.

Das war vor vier Jahren. Grace Corugda hatte Glück, großes Glück. Heute fehlt den meisten Kliniken des südostasiatischen Inselstaates das Personal für eine Notoperation. Denn während Ärzte in Deutschland auf die Straße gehen, um mehr Gehalt und bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiken, kehren die philippinischen Kollegen ihrem Heimatland gleich endgültig den Rücken.

Bereits seit Jahrzehnten „exportieren“ die Philippinen medizinische Fachkräfte, doch aus der stetigen Abwanderung ist eine Massenflucht geworden. Lange Arbeitszeiten, miserable Ausstattung, eine instabile politische Lage, vor allem aber der miese Lohn – davon haben viele die Nase voll. Und sie wissen, dass sie es andernorts besser haben können. Eine Krankenschwester verdient auf den Philippinen 180 bis 220 US-Dollar im Monat, Ärzte müssen sich mit 300 bis 800 zufriedengeben. In Industrieländern hingegen gehen Krankenpfleger mit 3.000 bis 4.000 US-Dollar nach Hause.

In den vergangenen fünf Jahren sind mehr als 50.000 philippinische Krankenschwestern und etwa 5.000 Ärzte dem Lockruf des Geldes erlegen, weit mehr, als im selben Zeitraum ausgebildet wurden. „Ärzte ohne Grenzen“ – das nehmen Mediziner auf den Philippinen wörtlich. Allerdings arbeiten die meisten im Ausland mangels Zulassung nicht als Doktoren, sondern als Pfleger. In Kursen lernen Chirurgen, Anästhesisten oder Neurologen, wie man Patienten wäscht und füttert. Ein weltweit einzigartiges Phänomen, doch schließlich macht sich der Karriereknick im Ausland in klingender Münze bezahlt. Und wer hätte nicht gerne einen Krankenpfleger mit Doktortitel?

118.000 Pfleger für die USA

Der Bedarf an Pflegepersonal in Industrieländern ist enorm, das Interesse an diesem Beruf aber gering. Allein die USA meldet derzeit 118.000 unbesetzte Stellen, Tendenz stark steigend. Was liegt da näher, als die Lücke mit qualifiziertem Personal aus Entwicklungsländern zu stopfen? Vor allem England, Irland und die USA buhlen mit unkomplizierter Immigration für die ganze Familie und gutem Gehalt um Mediziner aus der Dritten Welt. Philippinische Fachkräfte sind besonders begehrt: Sie sprechen gut Englisch und sind geduldig und sanft im Umgang mit Patienten.

Für reiche Länder sind die Gastarbeiter eine billige Lösung, die Philippinen können den Aderlass derweil kaum noch verkraften. Dr. Jaime Galvez Tan, früher selbst Minister für Gesundheit, warnt seit Jahren unermüdlich vor dem Infarkt der medizinischen Versorgung. „Was wir derzeit erleben, ist ein Massenexodus von Ärzten und Krankenschwestern. Auf dem Land finden Kranke kaum noch Hilfe, weil Hospitäler wegen Personalmangels schließen mussten.“

Jossel Asbate von der Alliance of Health Workers stimmt zu: „Es dauert noch zwei, drei Jahre, dann sind wir völlig ausgeblutet.“ Seinen Zahlen zufolge sind von ehemals 1.600 privaten Kliniken landesweit nur noch 700 voll betriebsfähig. In manchen Hospitälern muss eine Krankenschwester 55 Patienten betreuen. Offizielle Statistiken belegen, dass 40 Prozent aller Geburten ohne medizinische Hilfe stattfinden. Die Hälfte aller Kranken stirbt, ohne je einen Doktor gesehen zu haben. „In vielen Gebieten ist die medizinische Versorgung auf dem Stand von vor 50 Jahren“, bilanziert Dr.Tan.

Viele Ärzte scheinen solch düstere Diagnosen nicht anzufechten. „Ich habe es einfach satt hier. Ich habe unter vielen Entbehrungen studiert, um Ärztin zu werden, und jetzt arbeite ich seit zehn Jahren hart. Doch ich komme auf keinen grünen Zweig. Nicht mit mir und nicht mit unserem Land“, meint Trisha Manalo-Flores.

In Abendkursen hat sich die Zahnärztin zur Krankenschwester ausbilden lassen und knapp 2.500 US-Dollar dafür berappt. Zwei Jahre dauerte die Umschulung, „das war eine harte Zeit. Tagsüber arbeiten, abends zur Schule und nachts lernen.“ Sobald die 36-Jährige alle Papiere zusammenhat, will sie in die USA umsiedeln. „Ich wollte dort nie leben, aber es ist das kleinere Übel. Meine Kinder werden dort ganz andere Chancen haben als auf den Philippinen.“

Ende 2005 lernten landesweit etwa 4.000 Ärzte, wie man Patienten betreut. An den medizinischen Fakultäten der Universitäten herrscht indes gähnende Leere. „Früher mussten wir uns auf 80 Studenten limitieren, letztes Jahr hatte ich gerade noch 26 Zuhörer in meinen Seminaren“, beklagt sich Dr. Eric Hernandez, „die Pflegeschulen boomen hingegen.“ Der Kinderzahnarzt mit Diplom der University of Boston hat eine Zulassung als Arzt in den USA. Dennoch praktiziert er weiter in Manila, viele seiner Patienten sind Kinder gut betuchter Ausländer. „Ich verdiene im Gegensatz zu vielen Kollegen ausreichend – und außerdem will ich meinem Land etwas zurückgeben. Deswegen lehre ich auch an der Uni.“

Ein Gedanke, der den meisten ausreisewilligen Ärzten fremd zu sein scheint. „Medizinisches Ethos? So etwas gibt es hier nicht. Das wird überlagert von Unzufriedenheit mit der Gegenwart und Zukunftssorgen“, sagt Dr. Jean Marc Olivé, Direktor der WHO in Manila. „Die Regierung muss handeln“, fordert der Franzose, „derzeit sind lächerliche 1,1 Prozent des nationalen Budgets für den Gesundheitssektor vorgesehen. Das muss sich ändern, und zwar schnell.“

Einer, der im Kongress dafür kämpft, ist der linke Politiker Satur Ocampo. Er will erwirken, dass die Gehälter an allen staatlichen Kliniken um 50 Euro erhöht werden. „Eine lächerliche Summe“, wie er selbst findet. Mitstreiter hat Ocampo wenige: „Die Mehrheit im Kongress ist regierungstreu und boykottiert alle sozialen Verbesserungen. Das ist ein schlimmes Versagen von Arroyo“, wettert der Politikveteran.

Auch Jaime Tan lässt kein gutes Haar an der Administration von Präsidentin Gloria M. Arroyo. „Statt etwas zu unternehmen, werden die Ärzte noch ermutigt ins Ausland zu gehen. Sie schicken ja viel Geld nach Hause und halten so unsere marode Wirtschaft am Laufen.“ Der Gesundheitsexperte hat klare Vorstellungen, was getan werden müsste. „Der Etat muss erhöht, die Gehälter und Arbeitsbedingungen in den staatlichen Kliniken verbessert werden. Und der unregulierten Abwanderung muss man einen Riegel vorschieben.“

National Health Service Act heißt die Heilformel, die etwa in Malaysia Medizinstudenten dazu verpflichtet, für drei Jahre im Land zu praktizieren. „Fast alle unsere Nachbarn haben eine solche Regelung – warum nicht wir?“, fragt Tan und schießt die Antwort gleich hinterher: „Weil die Regierung nur das Geld sieht, das die Ärzte heimschicken.“

Die reichen Länder sollen zahlen

Einig sind sich Tan und Olivé, dass die Misere auch den Industriestaaten anzulasten ist. „Es muss ein bilaterales Abkommen geben, das die Philippinen schützt. Die reichen Länder können nicht nur nehmen und profitieren und nichts zurückgeben“, so der WHO-Chef. „Wir brauchen Kompensation! Für jeden Arzt oder jede Schwester, die rekrutiert werden, müsste Geld in einen Fonds fließen. Aus diesem Topf können dann Stipendien finanziert oder Kliniken renoviert werden. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir müssen wenigstens damit anfangen“, fordert Tan.

In Arroyos Kabinett hat man offenbar kein Rezept parat. Pressesprecher Ignacio Bunye gibt zwar zu, dass die Ärzteflucht „in der Tat ein ernstes Problem ist. Aber wenn unsere Mediziner auf der grüneren Seite des Zauns leben wollen, ist das ihre persönliche Entscheidung. Da können wir nicht viel machen.“

Exminister Tan bringen solch laxe Bemerkungen zur Weißglut. „Wahrscheinlich muss erst die Frau eines Senators mit einer ernsten Krankheit in eine Klinik eingeliefert werden, in der leider kein Arzt übrig ist, um sie zu behandeln. Dann wachen die Politiker auf! Bei uns passiert immer erst etwas, wenn die Reichen betroffen sind!“

Damit hat der Experte sicher Recht. Allerdings würde die Senatorengattin gar nicht erst erwägen, sich auf den Philippinen behandeln zu lassen. Dann doch lieber in einer amerikanischen Klinik – da ist das Pflegepersonal so gut.