Die Knödel fehlen leider sehr

Und? Wollte man werden, was man in Deutschland wurde? Der Dokumentarfilm „Am Rand der Städte“ von Aysun Bademsoy porträtiert heimgekehrte Türken

VON HARALD FRICKE

Wolkenloser Himmel, azurblaues Meer, Sandstrände und Palmen vor der Haustür. Die Wohnanlagen, die Aysun Bademsoy für ihren Dokumentarfilm „Am Rand der Städte“ aufgesucht hat, sehen nach Urlaubsfotos aus. Wer sich hier, am Rand der Stadt Mersin im türkischen Süden gelegen, ein Apartment leisten kann, hat es geschafft – weit über 130.000 Euro kosten die Eigentumswohnungen der „Flamingo“-Siedlung. In der Türkei sind solche Summen allerdings utopisch hoch. Deshalb leben in den supermodernen, rund um die Uhr bewachten Wohnblocks auch vorrangig Familien, die das entsprechende Geld im Ausland verdient haben: Gastarbeiter, die in den Siebzigerjahren in Deutschland oder den Niederlanden angeheuert, die im Akkord geschichtet und teilweise noch einen Zweitjob gemacht haben, um sich den Traum der Wohlhabenheit zu erfüllen.

Und? Hat es sich gelohnt? Diese Frage beschäftigt die Berliner Filmemacherin seit einigen Jahren. In ihrer 1995 entstandenen Porträtstudie „Nach dem Spiel“ ging es um eine türkische Mädchenfußballmannschaft aus Kreuzberg und die Hoffnungen der jungen Migrantinnen in Sachen Arbeit, Liebe und Karriere; für „Deutsche Polizisten“ (1999) hat Bademsoy eingebürgerte Türken und Jugoslawen begleitet, die als Ordnungshüter für den Staat im Einsatz sind, den sie als Heimat empfinden. „Am Rand der Städte“ ist in gewisser Weise eine Bilanz, ein Feedback auf das Versprechen der Integration, fernab allen Geredes von der Parallelgesellschaft. Wollte man werden, was man in Deutschland wurde?

Richtig wohl fühlen sich nur wenige der Familien, die Bademsoy zum Interview getroffen hat. Schon zu Beginn erzählt der 19-jährige Deniz, wie hart es war, als der Vater nicht mit zurückgekommen ist und er sich nach der Scheidung seiner Eltern quasi allein als Beschützer für Mutter und Schwester in der fremden türkischen Umgebung verantwortlich fühlte. Gerne ist er jedenfalls nicht in die Türkei übergesiedelt, wo doch Deutschland sein Zuhause war.

Jetzt macht er das Beste aus seiner Situation und erklärt ein wenig verstockt, dass es irgendwie schon schön ist, wenn er allein unter der türkischen Flagge sitzt, seinen Whiskey trinkt und aufs Meer starrt. Aber Heimat? Hat er sich doch etwas anders vorgestellt. So wie die vielen anderen jungen Türken und Türkinnen auch, die im Schlepptau der Eltern Deutschland verlassen mussten und nun darüber klagen, dass ihnen die Knödel fehlen, der dörfliche Charme ihres hessischen Provinznests, in dem sie aufgewachsen sind, oder die lockeren Szenekneipen in Mannheim. Umgekehrt fällt es den Alten schwer, sich nach all den Jahren wieder an die türkischen Realitäten zu gewöhnen: Sauberkeit und Ordnung, sagt ein grauer Pensionär, solche urdeutschen Tugenden vermisse er nun sehr.

Bademsoy ist neugierig, mit jedem Bild und bei jeder neuen Begegnung. Stets bleibt sie mit der Kamera nah an ihren Gegenüber, unaufdringlich und doch sehr genau. Dann ist das erste Wort, das einer Befragten auf Deutsch einfällt, „mit dem Auto“, in breitem Frankfurter Akzent. Später schaut man einer Frau dabei zu, wie sie zum Gebet extra einen Rock über ihrer Hose und ein Kopftuch trägt. Beides wird sie selbstverständlich nach getaner Gottesarbeit wieder ablegen.

Auch die Interieurs sind wichtig, selbst wenn Bademsoy sie nur als flüchtige Details auftauchen lässt. Eine Familie hat sich mit einer cremefarbenen Couchgarnitur das Wohnzimmer zugebaut, über dem Sofa hängt eine gerahmte, ganz und gar unmediterrane Postkarte mit gusseisernem Brunnen und Fachwerkhaus. Ständig schwappt das Rauschen des Meeres auf der Tonspur herein, spiegelt sich in den Fenstern die Silhouette der Küste, als wäre die Idylle, nach der man sich so gesehnt hat, zum Greifen nahe.

In solchen Momenten werden in „Am Rand der Städte“ die biografischen Brüche besonders anschaulich: Man lebt zwar an der türkischen Riviera, aber man lebt auch in Erinnerungen – an die besten Jahre, die man eben in Deutschland verbracht hat. Dieses Gefälle macht fast allen zu schaffen: Was als Zwischenstation gedacht war, ist zum bestimmenden Ort der Erfahrungen geworden. Der Identitätsspagat hat einen Namen – „Deutschländer“, so wie sich die Rückkehrer nach 20, 30 Jahren selber nennen.

Für diese Gemengelage hat Bademsoy durchaus Sympathien, immerhin ist sie selbst in ähnlichen Verhältnissen groß geworden. Aus dieser Zuneigung entstehen jedoch keine Bilder, die schnell mal Emotionen über die doppelte Fremde nach Art einer Homestory hochkochen. Nur einmal wird der Film deutlich: Ein älteres Ehepaar kann nach all den Jahren ihren Sohn und dessen eigene Kinder nicht mehr in Deutschland besuchen, weil ihr Aufenthaltsrecht mit der Rückkehr in die Türkei erloschen ist. Da würden sich die Rentner doch einmal etwas weniger Dienst nach Vorschrift und ein bisschen mehr Verständnis von dem Land wünschen, das über Jahrzehnte ihre Wahlheimat war. Auch das gehört zur Integration.

„Am Rand der Städte“. Regie: Aysun Bademsoy. Deutschland 2006, 83 Min.