Die Fehlbarkeit der Demoskopen

Umfrageergebnisse gaukeln vor, dass die Abgeordnetenhauswahl bereits entschieden sei. Doch noch gibt es viele unbekannte Faktoren: die Wahlbeteiligung, die Mobilisierung der Wähler und statistische Schwankungen

Wenige Tage vor der Wahl scheint offen, wer Berlin künftig regiert. Die Umfragen der Wahlforscher legen zwar eine Alternative nah: Entweder bleibt Rot-Rot am Ruder, oder die Sozialdemokraten holen die Grünen als neuen Partner in den Senat. Doch so einfach ist es nicht. Je nach Umfragemethode, Wahlbeteiligung und Parteienkalkül sind ganz unterschiedliche Koalitionen möglich.

Auf den ersten Blick sind die letzten Umfragen vor der Abgeordnetenhauswahl am Sonntag eindeutig. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid sieht die SPD bei 33 Prozent. Damit bleiben die Sozialdemokraten im Vergleich zu Ende August unverändert, ebenso die Grünen mit 14 Prozent. Die Linkspartei verlor einen Prozentpunkt und kommt auf 15 Prozent. Die CDU legte um einen Punkt auf 22 Prozent zu, die FDP verharrt bei 9 Prozent, die WASG käme mit derzeit 3 Prozent nicht ins Abgeordnetenhaus. Weil die Wahlalternative und die sonstigen Parteien insgesamt 7 Prozent an Wählerstimmen abziehen, hätten sowohl Rot-Rot (48 Prozent) als auch Rot-Grün (47 Prozent) eine knappe Mehrheit der Mandate im Parlament.

Die beliebteste Regierungskoalition in Berlin ist laut Emnid Rot-Grün mit 22 Prozent Zustimmung. „Das sind reine Sandkastenspiele“, urteilt der Parteienforscher Gero Neugebauer von der Freien Universität. Nicht die erfragte Präferenz der Berliner entscheide über die künftige Koalition. „Viel wichtiger sind etwa die Erwägungen der Bundesparteien. Beispielsweise: Drängt die Bundes-SPD Wowereit zu Rot-Grün?“ Kurz: „Aus Wahlumfragen erwächst für die Parteien kein Zwang zu einer bestimmten Koalition.“

Auch der Wahlausgang selbst ist viel weniger vorhersehbar, als es die Umfragezahlen nahe legen. „Besser als die Wettervorhersage sind diese Werte nicht“, sagt Neugebauer. Die Demoskopen könnten stets nur die Wählerstimmung zum Zeitpunkt der Umfrage ermitteln, nicht den Wahlausgang vorhersehen. Dass Demoskopen aus diesen Werten mögliche Koalitionen ableiten, ist daher problematisch – erst recht angesichts der knappen Umfrageergebnisse für Berlin.

Die Forschungsgruppe Wahlen sieht etwa die Linkspartei bei 17 Prozent – zwei Prozentpunkte mehr als in der Emnid-Umfrage. Die Grünen (13 Prozent) hingegen schneiden bei der Forschungsgruppe um einen Prozentpunkt schlechter ab, ebenso die FDP (8 Prozent). Im knappen Rennen der Parteien können schon geringe Abweichungen entscheiden. „Die Wahlumfragen sagen nicht aus, wie die Unentschiedenen abstimmen werden“, erklärt Politologe Neugebauer. Und: „Liegt eine Partei in Umfragen bei 40 Prozent, sind drei Prozent Schwankung nach oben oder unten möglich.“

Laut Emnid-Umfrage wollen 70 Prozent der Wahlberechtigten „bestimmt“ abstimmen. Auf eine hohe Wahlbeteiligung will der FU-Parteienforscher aber nicht wetten. Bei der letzten Abgeordnetenhauswahl im Jahr 2001 waren es 68 Prozent. Und das, obwohl damals der Bankenskandal und der Bruch der schwarz-roten Koalition für hohes Interesse der Berliner sorgten – anders als heute. Obendrein könnte die SPD am Wahltag Mobilisierungsprobleme bekommen. Ihr Sieg scheint vielen Sympathisanten sicher – ob sie abstimmen oder nicht. Dann hätten die Umfrageergebnisse selbst dazu beigetragen, sich als falsch herauszustellen. MATTHIAS LOHRE