In der Kopfnote pompös

Understatement gibt es nur bei der Anzahl der toten Jungfrauen: Tom Tykwers Bestsellerverfilmung „Das Parfum“ schöpft aus dem Vollen. Doch unter dem Druck, alles vor Augen stellen zu wollen, findet der Regisseur lauter Bilder, die von nichts anderem reden als ihrem eigenen Visualisierungszwang

von DIETMAR KAMMERER

Mit einem satten „Plopp!“ fährt die Geburt aus der Mutter und liegt dann da in ihrem eigenen blutigen Schleim, weich gebettet auf abgehackten Fischköpfen, Gedärmen und allerlei sonstigem Unrat des Pariser Fischmarktes. Irritierend realistisch wirkt das Neugeborene, das Kopf, Augen und Hände bewegen kann, aber wir wissen: Das ist bloß eine Puppe, ein mit Haut überzogener Roboter mit ausgefuchster mechanischer Innenausstattung, ferngesteuert ins Leben gebracht von wahrscheinlich einem halben Dutzend Puppenspielern, die gerade wie wild an ihren Knöpfen drehen. Nun, bei 50 Millionen Euro Produktionskosten, drei Jahren Vorbereitung, einer Besetzung aus Großbritannien, den USA und Deutschland, ganz zu schweigen von den 5.200 historisch kostümierten Statisten, sollte man nichts anderes erwarten als ein technisch perfekt inszeniertes Spektakel ohne Innenleben.

Produzent Bernd Eichinger, seit „Der Name der Rose“, „Das Geisterhaus“ oder „Die unendliche Geschichte“ aufs Genre Weltbestseller-Verfilmung verpflichtet, hat Geduld und diabolische Verführungskunst bewiesen, als er dem Autor Patrick Süskind im Jahr 2000 die Rechte für die Verfilmung seines „Parfum“ für eine unerhört hohe Summe abkaufte. Das war 15 Jahre, nachdem die „Geschichte eines Mörders“ erstmals auf dem Buchmarkt erschienen war – 15 Jahre, in denen der öffentlichkeitsscheue Autor, zuvor vor allem als TV-Drehbuchautor („Monaco Franze“) bekannt, bei jedem seiner seltenen Statements verkündete, er werde unter keinen Umständen einer filmischen Adaption seines Werkes zustimmen.

Aus der Arbeit am Drehbuch hat Süskind sich dann konsequent herausgehalten, was Eichinger und Regisseur Tom Tykwer die Gelegenheit gab, ihre ganz eigene Interpretation der Hauptfigur zu skizzieren: der Meuchler als verkanntes Genie, als verlorene Seele auf der Suche nach Liebe. Im Roman ist der Mädchenmörder Jean-Baptiste Grenouille ein „Zeck“, ein abstoßend hässliches Wesen ohne jegliche Gewissensbisse, den, während er sein erstes Opfer erdrosselt, einzig die Sorge treibt, ihr Duft könne dabei verloren gehen. Süskind beschreibt keinen Menschen im Dilemma, sondern einen, der sein Lebensziel gefunden hat. Er mordet einfach so lange weiter, bis in der gesamten Gegend keine Jungfrauen mehr übrig sind, mehr als fünfundzwanzig hat er schließlich auf dem Gewissen. So einer kennt kein Maß und kein Prinzip. Bei Tykwer ist Grenouille (Ben Whishaw) methodischer, nicht dem Übermaß, sondern der Kunst verpflichtet, und weil die Regeln der Parfümerie vorschreiben, dass der perfekte Duft aus zwölf Einzelnoten und einer dreizehnten, geheimen Zutat zu bestehen habe, halbiert sich der body count auf der Leinwand gnädig.

Bei allem anderen bedient sich der Film aus dem Vollen. Die künstlerischen Departments, die Kostümbildner, Tischler und Ausstatter, die Verantwortlichen für die historische Akribie, das Make-up und das Szenenbild – am eindrucksvollsten die „Dirt Surface Crew“ – haben ganze Arbeit geleistet. Unter dem Druck, alles vor Augen stellen zu müssen, hat Tykwer jedoch lauter Bilder geschaffen, die von nichts anderem sprechen als ihrem eigenen Visualisierungszwang. Wenn der greise Parfumeur Baldini (Dustin Hoffman) das erste Mal einen von Grenouille komponierten Duft verkostet, folgt im Buch eine ausführliche Beschreibung der Empfindungen in Baldinis Kopf, während er in Wahrheit weiterhin in seinem Warenlager steht; im Film sehen wir Baldini tatsächlich in einem neapolitanischen Garten, eine dunkelhaarige Schönheit flüstert ihm Liebesworte ins Ohr, die wir alle hören dürfen. Sehen wir den elfenbeinernen Nacken des ersten rothaarigen Frauenopfers, ertönen dazu Harfenmusik und Sphärengesänge. Das bacchantische Spektakel, in das der zum Tode verurteilte Grenouille mit Hilfe seines Super-Aphrodisiakums seine Hinrichtung verwandelt, wurde unter Anleitung einer Tanztheatertruppe einstudiert und wirkt genau so: wie sorgsam einstudiertes Tanztheater. Einmal gibt es eine digitale Kamerafahrt in die leinwandfüllenden Nasenflügel des Helden. Wäre der Film ein Roman, er bestünde aus lauter Ausrufezeichensätzen: Welch Schmutz in der Stadt! Welch malerische Landschaft! Welch große Nase! Wäre „Das Parfum“ ein Duft, das Urteil müsste lauten: In der Kopfblüte pompös, in der Herznote zu aufdringlich, und im Nachklang bleibt nichts übrig.

„Das Parfum“, Regie: Tom Tykwer, mit Ben Wishaw, Dustin Hoffman u. a., D/ E/F 2006, 147 Min.