Mythos Hafenstraße

Straßenschlachten mit der Polizei waren an der Tagesordnung: Selbst Optimisten hätten keine Wette darauf abschließen wollen, wie lange es die Hafenstraße in St. Pauli noch geben würde. Von heute an feiern die BewohnerInnen den 25. Jahrestag. Aus Hausbesetzern sind Hausbesitzer geworden

Von Kai von Appen

Die Häuser und ihre BewohnerInnen galten europaweit als „Symbol des Widerstands“ gegen staatliche Repression und Umstrukturierungswahn in den Metropolen – aber auch als Exempel dafür, dass der Staat unter der Formel „rechtsfreie Räume unterbinden“ kompromisslos durchgreift.

Selbst Optimisten schlossen Mitte der achtziger Jahre keine Wette darauf ab, wie alt die Hafenstraße werden würde. Doch die vor 25 Jahren besetzte Häuserzeile ist heute fester Bestandteil des Stadtteils Hamburg-St. Pauli. Aus den Hausbesetzern wurden Hausbesitzer, die einstige Abbruchmeile ist weitgehend saniert. „Wir sind eingemeindet worden“, beschreibt es lakonisch ein Hafenstraßenbewohner der ersten Stunde.

Wann es an der Hafenstraße genau losgegangen ist, weiß niemand mehr so recht. „Es begann sicherlich irgendwann im Oktober oder November 1981“, so der Hafenstraßen-Veteran. Damals waren nur einzelne Wohnungen in den zwei leer stehenden Blocks an einen studentischen Verein vermietet. Die Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Hamburg hatte die Zeile jahrelang zwecks Abriss verrotten lassen, um auf dem citynahen „Filetstück“ für ein Klein-Manhattan der Großinvestoren Tchibo und Gruner + Jahr Platz zu schaffen. Nach und nach wurden weitere Wohnungen belegt und notdürftig hergerichtet. Erst als im Februar 1982 ein Transparent „Besetzt – Ein Wohnhaus ist kein Abrißhaus“ an die Fassade gehängt wurde, bemerkte die SAGA die „schleichende Besetzung“.

Und keiner hat’s gemerkt

In Verhandlungen zwischen den BesetzerInnen und dem Hamburger SPD-Senat wird Ende 1982 die Winterfestmachung und der Erhalt einiger Gebäude zugesichert, ein Jahr später werden auf drei Jahre befristete Mietverträge abgeschlossen. SPD-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi wird Jahre später im Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft den BesetzerInnen Respekt für ihr Verhandlungsgeschick zollen. „Die Bewohner kamen und unterschrieben den Vertrag mit ,B. Setzer‘ – und niemand hat’s gemerkt.“ Es brechen wilde Zeiten an. Die Volxküche, die Kneipen „Ahoi“, „Onkel Otto“ sowie das antifaschistische „Störtebeker Zentrum“ entstehen, es gibt ein Frauenhaus und das Café „Tante Hermine“. Immer mehr Leute stoßen aus privater, aber auch aus politischer Motivation zur Hafenstraße. Kaum ein Wochenende vergeht ohne Polizeieinsatz. Schema: Autoeinbruch, Strafverfolgung, Flucht Richtung Häuser, Widerstand, Großalarm.

Hamburgs Verfassungsschutz-Chef Christian Lochte bemerkt schnell, dass sich in der Häuserzeile nicht nur ein Sammelsurium aus „Punks und Lumpenproletariat“ zusammengefunden hat, sondern auch Menschen, die gesellschaftliche Veränderungen anstreben. Für Lochte eine Mischung, um die Keule zu schwingen. Er versucht das Gerücht in die Welt zu setzen, in der Häuserzeile habe sich die Kommandozentrale der RAF eingenistet – nur weil die Hafenstraße wie ein Großteil der Linken die Zusammenlegung der politischen Gefangenen forderte. „Der Versuch der Entsolidarisierung ist fehlgeschlagen“, wird Lochte später einräumen müssen. Ebenso, dass manche Randale staatlich inszeniert war und V-Leute mitrandaliert haben. Lochte: „Wenn Steine fliegen, haben unsere Leute keine Tennis-Arme.“

Die Hafenstraße teilt die Stadt in zwei Lager. Der Senat setzt mehrheitlich auf die Tabula-rasa-Variante, die BewohnerInnen reagieren 1987 auf erste Wohnungsräumungen mit der Wiederbesetzung. Die Springerpresse, zusammen mit der CDU-Opposition und der „Betonfraktion“ der SPD, will die „Chaotenhochburg“ räumen lassen. Auf der anderen Seite setzten sich Kulturschaffende, Promis und PolitikerInnen wie der Vize-Bürgermeister Ingo von Münch (FDP) für eine friedliche und „entstaatlichte Lösung“ ein. Doch der Kulturmäzen Jan Philipp Reemtsma blitzt bei Klaus von Dohnanyi mit dem Vorschlag ab, die Hafenstraße für einen symbolischen Preis von einer Mark zu kaufen.

Der Flug nach Sylt

Es beginnt ein mehrmonatiger Nervenkrieg. Während des Urlaubs von Bürgermeister von Dohnanyi versuchen die Statthalter der SPD-Betonfraktion, wegen ein paar illegal angebrachter Poller an der Straße den „Pollerkrieg“ auszurufen. Der Vorsitzende der hafenstraßenfreundlichen Patriotischen Gesellschaft chartert daraufhin einen Hubschrauber, um von Dohnanyi am Strand von Sylt aufzustöbern und ihn zu bewegen, den Putsch zu unterbinden. Die Räumungspläne werden verschoben, aber nicht aufgehoben.

Denn der Konflikt verschärft sich nach neuen Räumungsgerüchten. Die BewohnerInnen verbarrikadieren ihre Häuser mit Natodraht und Feuerschutztüren. Hunderte Sympathisanten aus der ganzen Bundesrepublik eilen im November 1987 nach Hamburg. In der Nacht zum 12. November werden Barrikaden errichtet. 10.000 PolizistInnen werden in den nächsten Tagen nach Hamburg gerufen und positionieren sich mit schweren Räumgeräten und -panzern in der City. Hubschrauber-Kommandos des Bundesgrenzschutzes sowie die Anti-Terroreinheit GSG 9 werden zum Angriff über die mit Stacheldraht gesicherten Dächer geordert.

Während sich in der Promi-Kneipe „Zapfhahn“ nahe der Häuser grüne Politiker, Kulturschaffende und Journalisten tummeln und zu vermitteln versuchen, ist in einer Wohnung der Hafenstraße im ersten Stock die eigentliche Schaltzentrale eingerichtet worden. Über eine Hotline – damals ein einfaches Telefon – besteht Kontakt zu Unterstützern von außen und zu Politikern wie SPD-Chef Jochen Vogel und Bundespräsident Richard von Weizsäcker.

Bürgermeister Klaus von Dohnanyi wirft seine persönliche Zukunft in die Waagschale. Er gibt sein „Ehrenwort“ und „verpfändet sein Amt“, indem er den BewohnerInnen einen Pachtvertrag zusichert, wenn diese mit dem Abbau der Befestigungen beginnen. Das Hafenstraßen-Plenum willigt ein, „das Wunder vom Hafenrand“ geschieht – und hält nur kurz. 1988 wird von Dohnanyi nicht zuletzt wegen seiner Hafenstraßenpolitik gestürzt, und der neue SPD-Bürgermeister Henning Voscherau lässt die Polizei aufmarschieren, um die Begehung der „Immobilie Hafenstraße“ durch den Pächter durchzudrücken. Die zur Hafenstraße gehörende Wagenburg wird geräumt. Und dann fällt noch das Bundeskriminalamt mit 3.000 Hilfspolizisten in die Häusermeile ein, um die angebliche RAF-Connection aufzuspüren.

Die Polizei als Freund

Nach einer wahren Prozesswut durch alle Instanzen erklärt das Hamburgische Oberlandesgericht den Pachtvertrag 1993 wegen angeblicher Verfehlungen der BewohnerInnen für gekündigt. Doch Bürgermeister Henning Voscherau muss nach dem juristischen Erfolg erkennen, dass die staatliche Eskalationsstrategie langfristig nicht vermittelbar ist. Nachdem die Randbebauung neben der Häuserzeile problemlos begonnen hat, verkauft die Stadt 1995 die Häuser an den Rechtsanwalt Hans-Joachim Waitz. Der gründet die Hafenstraßen-Genossenschaft und vermietet das Objekt an den Hafenstraßenverein, sodass die BewohnerInnen wieder selbst über ihre Geschicke entscheiden.

Inzwischen sind weite Teile der Häuserzeile saniert. Die Veranstaltungszentren „Onkel Otto“, das „Störtebeker“ und der Polittreff „Butt Club“ werden gut frequentiert. Vor zwei Jahren musste die Genossenschaft sogar ein Grundstück an der Hafenstraße kaufen. „Sonst hätte ein Spekulant dazwischen gebaut“, so die Bewohner.

Doch auch die Hafenstraße kann nicht verhindern, dass sich der Ausverkauf und die Yuppisierung des Stadtteils beängstigend rasch fortsetzt. „Das Investitionsklima hat sich seit der Legalisierung gewandelt“, so der Hafensträßler. „Die neoliberale Globalisierung schreitet voran.“ Überall in St. Pauli siedelten sich Event-Locations und Großprojekte an – kritische Diskussionen gebe es darüber kaum noch.

Das Verhältnis zur Ordnungsmacht hat sich seither entspannt. „Die Davidwache würde uns gern für die Auflösung der offenen Drogenszene in der Region gewinnen“, sagt ein Bewohner, „aber das geht zu weit.“ Selbst wenn es manche in den Häusern begrüßen, wenn gegen Dealer vorgegangen wird, sei dies vor den Häusern Aufgabe der Polizei: „Das ist ihr Job.“ Sollte die Stadt allerdings ein paar Lampen anbringen wollen, um finstere Ecken vor der Hafenstraße gegen heimliches Dealen auszuleuchten, könnte es sein, dass so mancher Scheinwerfer aus den Häusern dazukommt. Es ist doch ein bisschen anders geworden an der Hafenstraße.