Das Wichtigste ist – Respekt

Dieses Land braucht dringend einen anderen Umgang mit dem Problem der Armut – und den Menschen, die arm sind. Dabei helfen weder Almosen für die Bedürftigen noch eine moralische Anklage der Reichen. Sieben Vorschläge für eine intelligente Armutspolitik

Neue Armutspolitik muss mehr sein als eine Politik für die Mittelschicht. Ist Solidarität möglich?

VON NADJA KLINGER
UND JENS KÖNIG

In Deutschland hat die Ungleichheit heute ein Maß erreicht, das die Grenze zur Unsittlichkeit überschreitet. Die, die mehr haben, können ihren Reichtum vor denen, die weniger haben, nicht mehr rechtfertigen. Sowohl die Vermögen als auch die Einkommen driften immer weiter auseinander. Die Vermögen umfassten 2003 eine Summe von 5 Billionen Euro. Das macht im Durchschnitt 133.000 Euro pro Haushalt.

Tatsächlich sieht es so aus: Die obersten zehn Prozent verfügen über 670.000 Euro, und die untersten zehn Prozent haben über 8.000 Euro Schulden. Bei den Einkommen sind die Unterschiede ähnlich drastisch. Nach Berechnungen der Managementberatung Kienbaum verdienen die Vorstände der 30 größten deutschen Unternehmen heute mehr als doppelt so viel wie noch 1998; im Schnitt fast 200.000 Euro im Monat. Die Reallöhne der Beschäftigten dagegen sind heute niedriger als 1991. Der durchschnittliche Vollzeit-Arbeitnehmer verdient 2.448 Euro im Monat.

Die Bundesrepublik ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Es gibt Millionen von Verlierern, die die Gewinner einfach nicht mehr stören. Sie bilden nicht einmal mehr das, was Karl Marx einst die „industrielle Reservearmee“ nannte. Sie sind für das wirtschaftliche Funktionieren nutzlos geworden. Ihre Arbeitslosigkeit schließt sie aus der Gesellschaft aus. Ihr Ausschluss verschärft ihre Armut. Die Armut macht ihnen ein würdevolles Leben kaum möglich. Sie sind ein für alle Mal abgehängt.

Dieses Land braucht dringend eine intelligente Armutspolitik. Dabei helfen weder Almosen für die Bedürftigen noch eine moralische Anklage der Reichen. Es geht um die Schwachen der Gesellschaft und die Durchsetzung ihrer sozialen Rechte als gleichberechtigte Bürger – nur so kann langfristig ein Ausbrechen aus ihrer Armut ermöglicht werden. Dies ist nicht der Ort, um eine umfassende Armutspolitik zu formulieren. Außerdem kann niemand genau sagen, wie eine solche Politik im Detail auszusehen hat. Dafür ist das Problem der modernen Armut zu umfassend und zu kompliziert, in politischer, wirtschaftlicher, aber auch moralischer Hinsicht. Seine Lösung dürfte Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Das erfordert keine Politik aus einem Guss, sondern lässt sich nur als vernünftiges Patchwork vieler einzelner Maßnahmen realisieren. Dazu gehört auch die Einsicht, dass manchen sozialen Missständen mit den Mitteln der Sozialpolitik gar nicht beizukommen ist. Die Grenzen, die Ungleichheit setzt, sind in wechselseitigem Respekt nur schwer zu überschreiten. An dieser Stelle soll deshalb lediglich der Versuch unternommen werden, einige Prinzipien einer solchen Hilfe für die Armen zu formulieren.

• ERSTENS muss Armutspolitik mehr sein als eine Politik für die Mittelschicht. Noch jede Bundesregierung hat im Namen des sozialen Ausgleichs vor allem ihre wichtigste Wählergruppe bedient: die Mitte, egal ob die alte oder die neue. Die rot-grüne Regierung begründete ihre Fokussierung auf die „neue Mitte“ gelegentlich mit einem Zitat des früheren US-Präsidenten Bill Clinton, der meinte, es gehe um „people who work hard and play by the rules“, um Leute, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Das sind Niedriglöhner, 1-Euro-Jobber und Langzeitarbeitslose im Verständnis auch der großen Koalition gerade nicht. Wer diese Gruppen unterstützen will, muss die gültigen Rituale der Umverteilung sozialer Leistungen in Frage stellen.

• ZWEITENS darf Armutspolitik keine Politik sein, die die Mittelschicht stets benachteiligt. Immer wieder muss neu ausgehandelt werden, worin der Anteil beider Gruppen zur Sicherung des Gemeinwohls besteht. Die Frage der Solidarität zwischen der Mittelschicht und den Ausgeschlossenen ist für die künftige Sozialpolitik in Deutschland von zentraler Bedeutung.

• DRITTENS wird Armutspolitik nur wirksam sein, wenn sie sich nicht am alten Sozialstaat orientiert. Dieser taugte nur für die Wirklichkeit national begrenzter Industriegesellschaften, in denen die Männer für das Familieneinkommen verantwortlich waren. Er verstand Sozialpolitik vor allem als Sozialversicherungspolitik. Er orientierte sich am Rentner und nicht am Schüler. Er versuchte, Ungerechtigkeiten durch finanzielle Transfers auszugleichen. Er setzte dabei falsche Anreize, machte von staatlicher Hilfe abhängig und förderte die Menschen zu wenig. Er kümmerte sich kaum darum, wie der Einzelne durch aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Armut und sozialen Ausschluss verhindern konnte.

• VIERTENS muss Armutspolitik deswegen vor allem Bildungspolitik sein. Und zwar vom Kindergarten an. Dazu gehört das Eingeständnis, dass das deutsche Bildungssystem hochgradig unsozial ist. Es benachteiligt vor allem die sozial Schwachen und die Migrantenkinder. Die Hauptschule ist zum Sammelbecken der Bildungsverlierer geworden. Jeder zehnte Hauptschüler verlässt ohne Abschluss die Schule. Knapp ein Viertel aller Schulabgänger jedes Jahrgangs besitzt völlig unzureichende Kompetenzen, jeder fünfte Jugendliche bricht seine Ausbildung ab. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als sich ins Heer der Ungelernten und Dauerarbeitslosen einzureihen.

Wenn ihnen, analog zum Mindestlohn, nicht eine Mindestbildung garantiert wird – der Wissenschaftsexperte Wolf Lepenies definiert ein solches „Bildungsexistenzminimum“ durch einen Hauptschulabschluss oder den Abschluss einer Berufsausbildung –, sind Armut und sozialer Ausschluss dieser jungen Menschen immer wieder vorprogrammiert. Selbst die Verdoppelung ihres Arbeitslosengeldes würde sie vor diesem Schicksal nicht bewahren.

• FÜNFTENS funktioniert Armutspolitik nur als Querschnittsaufgabe. Sie erfordert ressortübergreifendes Handeln – nicht gerade eine Stärke deutscher Politik. Großbritannien etwa macht vor, wie es geht. Ihre Early Excellence Centres verbinden Bildungs-, Sozial- und Gesundheitspolitik. Dabei handelt es sich um Kindergärten in sozialen Problembezirken, so genannte „frühpädagogische Stützpunkte“, knapp zwei Drittel der Ein- bis Vierjährigen stammen aus Migrantenfamilien. Die Kinder profitieren von einem umfassenden Spiel- und Lernangebot. Das Entscheidende der Early Excellence Centres ist jedoch die Einbeziehung der Eltern. Sie werden in Gesundheits- und Erziehungsfragen beraten und können Computerlehrgänge sowie Englischkurse besuchen. Arbeitsvermittler und Vertreter der Sozialbehörden kommen direkt in die Kindergärten. Vieles von dem, was die Schwächsten früher nicht erreicht hat, finden sie hier. Die Kindergärten funktionieren als Servicestelle für viele Familien im Stadtbezirk.

• SECHSTENS ist Armutspolitik eine Politik des Respekts. Ihre zentrale Frage lautet: Wie können Menschen ein sinnvolles Leben führen, auch wenn sie keinen Arbeitsplatz finden? Das verlangt allerdings den Abschied von einer Lebenslüge. Wer glaubt denn schon noch daran, dass Vollbeschäftigung herbeiregiert werden kann? So schwierig es für Politiker ist, das Offensichtliche zuzugeben – täten sie es in diesem Fall, wäre von der Gesellschaft eine große Last genommen: Sie müsste nicht mehr auf das Unmögliche hoffen, das untergräbt ohnehin nur das Selbstwertgefühl, weil es jeden auf seine Funktion als Subjekt des Arbeitsmarktes reduziert.

Armutspolitik muss sich mit den Lebenslagen der Menschen beschäftigen. Hilfreich für die Arbeitslosen ist alles, was ihnen das Gefühl von Ausweglosigkeit nimmt, sie in die Gemeinschaft integriert und gleichzeitig ihre Würde respektiert. Das können 1-Euro-Jobs sein, sofern sie nicht – wie heute leider oft die Regel – als Disziplinierungsinstrument missbraucht werden und reguläre Beschäftigungsverhältnisse verdrängen. Wenn sie die Lebensqualität der 53-jährigen arbeitslosen Verkäuferin verbessern, und sei es nur für einen kurzen Zeitraum, wenn sie dem 44-jährigen Akademiker eine Arbeitsgelegenheit bieten, die halbwegs seiner Qualifikation entspricht und ihm die notwendigen sozialen Kontakte verschafft – dann sind diese Arbeitsmaßnahmen, freiwillig ausgewählt, sinnvoll.

Diese Beschäftigungsformen entsprechen nicht der reinen Lehre, und sie lassen sich nicht mit dem Schlagwort des „vorsorgenden Sozialstaats“ verbinden – und sind dennoch notwendig, um die dauerhafte Ausgrenzung vieler Menschen zu verhindern. Sie verlangen ein Ende der Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, also jener, die nicht arbeiten können, weil sie alt oder krank sind, und solcher, die grundsätzlich arbeitsfähig, aber angeblich zu faul zum Arbeiten sind. Diese „unwürdigen“ Armen waren früher die Vagabunden und Bettler, heute sind es die „erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“, die Arbeitslosengeld II erhalten, aber zur Arbeit um jeden Preis „aktiviert“ werden müssen.

• SIEBTENS braucht Armutspolitik engagierte Armutspolitiker. Es gibt in allen politischen Lagern Sozialpolitiker, Arbeitsmarktpolitiker, Gesundheitspolitiker, Bildungspolitiker – aber keinen einzigen Armutspolitiker. Das hat einen Grund: Keine Partei hat den Armen und Ausgegrenzten irgendetwas mitzuteilen, mit Ausnahme vielleicht der Linkspartei, die ja selbst ein Produkt des Widerstandes gegen Agenda 2010 und Hartz IV ist. Aber auch sie vermag den bitteren, oft stummen Protest schon längst nicht mehr zu binden.

Wir sind Zeuge einer aufschlussreichen Merkwürdigkeit: Je offensichtlicher sich die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer teilt, desto mehr schließen die Parteien ihre Reihen. Sie erlauben kaum noch Abweichungen. Sie überlassen die Verlierer sich selbst – und der Super Nanny auf RTL.