Die Gewalt ist schon da

Andres Veiels Film „Der Kick“ handelt vom Mord an einem Teenager im brandenburgischen Potzlow

von BIRGIT GLOMBITZA

In Potzlow, 60 Kilometer nördlich von Berlin, wurde in der Nacht vom 13. Juli 2002 der 16-jährige Marinus Schöberle von den Brüdern Marco und Marcel Schönfeld und ihrem Bekannten Sebastian Fink gefoltert und getötet. Das Opfer musste sich selbst als „Jude“ beschimpfen und in die Kante eines Schweinetrogs beißen. Einer der drei Täter sprang ihm dabei auf den Hinterkopf. So wie Edward Norton als Nazi in „American History X“ 1989 im Kino. Anschließend wurde Marinus' Schädel mit einem Stein zertrümmert und die Leiche in eine Jauchegrube geschmissen. Erst vier Monate später wurde sie entdeckt.

So war es damals in allen Zeitungen zu lesen. Das Fernsehen sendete immer wieder die gleichen Bilder vom Tatort, vom Trog, der Grube und von den noch unter Schock stehenden Bewohnern. In Potzlow hatten die Medien die Mördergrube der Nation gefunden. In der ostdeutschen Provinz, deren Zivilisiertheit, so legt es wenigstens der Subtext der Boulevardpresse nahe, offenbar zu vordergründig bleibt, um Trieb und Barbarei an der Kette zu halten.

Als der studierte Psychologe und Dokumentarfilmemacher („Black Box BRD“, „Die Spielwütigen“) Andres Veiel Potzlow besuchte, schlossen sich die Fensterläden, sobald ein Mikrofon auftauchte. Folgen eines medialen „Flurschadens“, wie der Regisseur das in verschiedenen Interviews nennt. Monatelang fuhren Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt immer wieder in das uckermärkische Dorf. Bis dessen Bewohner wieder mit Fremden sprachen. Veiel und Schmidt unterhielten sich mit Angehörigen der Opfer und Täter, mit ihren Nachbarn und Lehrern. Sie arbeiteten sich durch Vernehmungsprotokolle, Gutachten und Plädoyers. Aus 1.500 Seiten Material verfassten sie 40 Seiten Bühnentext, für ein „Dokumentartheater“, das 2005 uraufgeführt wurde – in einem Ostberliner Gewerbehof mit zwei hauptsächlich monologisierenden Schauspielern, Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch, in zwanzig Rollen. Als Eltern und Kinder, als Täter und Angehörige des Opfers, als Bürgermeister, Pfarrer, Gutachter und Staatsanwalt. Ein Jahr später inszenierte Veiel den gleichen Text in gleicher Besetzung noch einmal neu für die Kamera.

Man mag ein bisschen schaudern, wenn Veiel immer wieder bekräftigt, er habe die Täter aus dem „Monsterkäfig“ herausholen wollen. Schließlich hat das Theater genauso wie das Kino schon so viele Bestien mit mehr oder weniger Genuss und aufrichtigsten analytischen Vorsätzen zur Besichtigung freigegeben. Und auch die Frage muss erlaubt sein, ob Bühne und Leinwand sich nicht lieber anderen Sujets zuwenden sollten, wenn ihre Inszenierungen, wie eben auch die von „Der Kick“, doch gerade das Nicht-Abbildbare und Nicht-Spielbare einer monströsen Tat in ihrer formalen und darstellerischen Askese betonen.

Doch Veiels Experiment geht auf, auch dank der wunderbaren Präzision der beiden Schauspieler, und das auf sehr eindrucksvolle Weise. Den Regisseur interessiert das Sichtbarmachen durch das Verschwinden-Lassen. Ihm geht es um den Widerspruch zwischen der Abstraktion und dem Konkreten, der sich im Film sicher noch plausibler durchspielen lässt als auf der Bühne. Denn mit der Wahl des Kameraausschnitts lässt sich präziser entscheiden, in welchem Moment etwas näher oder körperlicher erscheinen soll, wann die knapp dosierte Mine eines Spielers die ganze tragische Verstocktheit eines pubertierenden Gelegenheitsfaschisten auf die leere Bühne holt oder die stammelnde Ratlosigkeit der Eltern und die gegenseitigen Schuldzuweisungen der Dorfbewohner. Susanne-Marie Wrage muss nur den Kopf auf der Schulter arretieren, und schon erkennen wir in ihr die in Fassungslosigkeit erstarrte Mutter der Täter. Mit einem prothesenhaft in die Hüfte gestemmten Ellenbogen und einer mühevoll angeschobenen Stimme markiert Markus Lerch den Vater, der noch immer an seine erzieherischen Prinzipien glaubt. In der kühl leuchtenden Verhörzelle im Hintergrund fasst er später als Staatsanwalt die soziale Misere der Wendeverlierer zusammen: „Dem Dorf fehlt der zivilisatorische Standard.“ Und die Täter üben sich mit geducktem Kopf im Amtsdeutsch, als gelte es, wenigstens mit dem juristisch korrekten Ausdruck der eigenen Sprachlosigkeit beizukommen: „Wir kauften einen Kasten Bier. Sternberger. Dieser wurde durch die Anwesenden geleert.“

Manchmal bauen sich die Monologe monolithisch in der kalten Leere des Bühnenraumes und in der Totalen auf: Wortsäulen aus Jugendjargon, Überlegenheitsfloskeln und breitem Dialekt, die von der seelisch-moralischen Verödung ganzer Landstriche erzählen. Von Perspektiv- und Arbeitslosigkeit und von der Alkohollöslichkeit blinden Hasses, der die Schwächsten trifft.

Andres Veiel gelingt es tatsächlich, einen Blick in das gesamtdeutsche Herz der Finsternis zu werfen. Egal, ob ein Großvater zitiert wird, der im Zweiten Weltkrieg mitansehen musste, wie die Russen vor seinen Augen seine Eltern erhängten, oder ob Marinus' Eltern sich wundern, dass niemand etwas bemerkt haben will, als ihr Sohn zur Folterstätte durchs Dorf getrieben wurde. Die Gewalt ist bei Veiel immer schon vorher da. Sie schält sich nicht nur aus der Soziopathologie dieses Ortes, sondern aus der eines ganzen Volkes und seiner Geschichte. Sie hockt irgendwo im Bühnendunkel, immer noch diffus, aber groß und schrecklich bereit.

„Der Kick“ ist nicht nur ein mutiger Versuch über das Unfassbare. Es ist auch eine Bewährungsprobe für das Kino, das auf seinen Illusionismus verzichtet und die Abstraktionskraft des Theaters klug und behutsam mit der Körperlichkeit des Films verbindet. Der Bühnenraum, in den sich „Der Kick“ zurückzieht, wird so zu einer platonischen Höhle des Zusehens und Vorstellens. Eine Höhle, groß genug für Monster und all die anderen Ausgeburten eines umgelenkten, kümmerlichen Selbsthasses.

„Der Kick“, Regie: Andres Veiel. Mit Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch, Deutschland 2006, 82 Min.