Weltmeister der Kieze

Schriften zu Zeitschriften: Das „Merkur“-Sonderheft versucht sich im aktuellen Deutschlandspiel – und kommt auf dem Weg über linken Patriotismus und Matusseks lautes nationales Bekenntnis verspätet in der Berliner Republik an

Auch Zeitschriftenmacher dürfen gelegentlich entspannen. Das scheinen sich jetzt Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel gesagt zu haben, die beide seit mehr als zwanzig Jahren das Sturmgeschütz der deutschen Intellektuellen, den Merkur, lenken. Ihr Job war zuletzt anstrengend genug, Monat für Monat: Immer wieder enttarnten sie Ussama Bin Ladens fellow traveller hierzulande und verausgabten sich im Kampf gegen die Political Correctness. Zudem stemmen sie einmal jährlich das umfangreiche Merkur-Sonderheft, das im September erscheint und dem die Angehörigen der deutenden Klasse neugierig entgegenfiebern, so sie nicht in ihm schreiben: Welches Thema werden sie diesmal ausgeheckt haben? Das Heft war traditionell ein Echolot der Gegenwart: „Zukunft denken“, „Kapitalismus oder Barbarei?“, „Postmoderne“, „Nach Gott fragen“, „Europa oder Amerika?“ – die ganz großen globalen Themen wurden hier in zumeist origineller Abmischung präsentiert.

In dieser Saison also gibt es etwas Entspannung unter der arg konventionellen Überschrift: „Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik“. Nach der schwarz-rot-goldenen WM-Party und den Dauerpatriotismusdebatten blättert der Leser ein wenig müde in den 27 Essays herum und stellt seufzend fest, dass hier auch Platz für den plautzigen Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek sowie dessen verspätetes und daher umso lauteres nationales Bekenntnis ist. Überhaupt Verspätung: Schwarz-rot-goldene Fahnen wurden schon 1990 massenhaft geschwenkt und selbst ein eher sorgenvoller Denker wie Jürgen Habermas hatte 1995 sein Bekenntnis zur „Normalität der Berliner Republik“ abgegeben. Jörg Lau, Redakteur bei der Zeit, beschwört dennoch das nicht gerade taufrische linke Patriotismusplädoyer des US-Philosophen Richard Rorty. Ob wir tatsächlich „dringend erfreulichere staatliche Feiern und Rituale“ brauchen, wie Lau meint, mag man bezweifeln. Der Berliner Kulturtheoretiker Thomas Macho guckt gelassener auf die Vielfalt der öffentlichen Festkultur, die zwischen ernst, lustig und peinlich dem Land ganz angemessen scheint. Das endlose Generationenspiel variiert erneut der Soziologe Heinz Bude: Klaus Kleinfeld (Siemens-Chef), Ronald Pofalla (CDU-Generalsekretär), Sigmar Gabriel (SPD-Umweltminister), Frank Schirrmacher (FAZ), Giovanni di Lorenzo (Zeit) sind alle Jahrgang 1958/59.

Politik ist vorwiegend eine ästhetische Frage. Diesem Gebot bleibt der Merkur treu. Der Kunsthistoriker Christian Demand attackiert noch einmal die Verhüllung des Reichstags durch Christo und Jean-Claude (wann war das noch gleich?). Herausgeber Bohrer ruft seine 20 Jahre alte, vehemente Abrechnung mit der Staatsästhetik der Bonner Republik in Erinnerung, bleibt aber mit Blick auf die Berliner Republik zum Glück unversöhnt: Er bemäkelt die „Vulgaritäten der Fußballweltmeisterschaft“, die „enttäuschende Performance der Bundeskanzlerin“, dazu „erbarmungswürdig unterbelichtete Provinzpolitiker“ – und den „dröhnenden Stil regionaler Kleinbürgerlichkeit“ Helmut Kohls, der bis heute in Mutationen fortwirkt. Das sieht Friedrich Dieckmann, Essayist östlicher Provenienz, ganz anders: Der 76-jährige, „behaglich-selbstgewisse“ Altkanzler sei eine „überzeugende Figur, ein Staatskoloss, der ohne Rhetorik auskommt, weil er wirklich etwas zu sagen hat“. Nun ja.

Am Ende führen alle Wege nach Berlin, in diversen Beiträgen. Doch eine kindlich-vergreiste Simulation des Flanierens durch den Autor David Wagner schützt kaum vor der Hauptsorge des Merkur, der allgemeinen Verprovinzialisierung. Selbst der Historiker Paul Nolte stellt fest: „Der Kiez ist zur Metapher einer ganzen Nation geworden.“ Dass man dieser Gefahr auch bei einem durchdeklinierten Thema entgehen kann, belegt Jens Bisky von der Süddeutschen Zeitung mit seinem Klassikerpotenzial besitzenden Essay über den „Berlin Style“, jenem „Bekenntnis zur Flächigkeit“ jenseits aller Generationenbastelei und zur „Befreiungsgeschichte“ in dieser Stadt seit 1990. Es sind die Furchen, die die Physiognomie der Berliner Republik kennzeichnen.

ALEXANDER CAMMANN

„Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik“. Sonderheft Merkur, Sept./Okt. 2006, 19 €, www.online-merkur.de