Gerne mehr Verausgabung

Die RuhrTriennale findet nicht recht zu einer publikumsfreundlichen Mischung aus Tanz, Musik und Theater. Zumindest das szenische Experiment „Einfach, eben: so!“ ist heiter und virtuos gemacht

Dass Essen zur Kulturstadt 2010 gekürt wurde, verdankt sich auch dem Image eines Festivals wie eben der RuhrTriennale

von REGINE MÜLLER

Gerade steckt der Schauspieler Stefan Kurt mitten im Monolog über Leben und Sterben, da hört man draußen einen dumpfen Schlag. Kurt spricht weiter seinen Text, der zu „Einfach, eben: so!“ gehört, einer szenischen Folge, die nach Motiven von Michel de Montaigne zusammengestellt wurde. Aber das Krachen wiederholt sich. Da dreht der als „Schattenmann“ berühmt gewordene Darsteller sich um zu seinen sechs an Bindfadenleinen hängenden Hündchen, die in Wahrheit Luftballons mit Zahnbürstenpfoten sind, und erkennt lakonisch grinsend: „Feuerwerk!“

Denn draußen auf Zollverein ist Zechenfest mit Livemusik, Currywurst und Kettenkarussel. Da gehen die Essener hin. Zur Triennale hingegen pilgert die Kulturschickeria eines weiten Einzugsgebiets. Sie scheinen nichts voneinander zu wissen, der kommunale Rummel und das internationale Leuchtturmfestival. Seltsam? Bei Lichte betrachtet nicht. Triennale-Gründungsintendant Gerard Mortier warb seinerzeit noch – ironisch? – mit Fotos von Arbeiterinterieurs in pittoresk vergilbter Schäbigkeit und gab die Losung aus, mit avancierter Hochkultur in Industriegemäuern auch die strukturgewandelten Eingeborenen des Potts anzusprechen. Aus der politisch korrekten Breitenwirkung wurde nichts. Dennoch avancierte die RuhrTriennale zum kulturellen Aushängeschild der Region. Dass Essen zur Kulturstadt 2010 gekürt wurde, verdankt sich auch dem Image des Festivals.

Auf die aristokratische Intellektualität des Flamen Mortier folgte mit dem gebürtigen Kölner Jürgen Flimm ein Intendant, der sich oft hemdsärmelig jovial gibt und mehr Bodenhaftung anzustreben scheint. Gern betont Flimm, am liebsten bewährte Weggefährten mit ins Festivalboot zu holen, wogegen erst einmal nichts einzuwenden wäre. Das Verfahren hält ja allenthalben den internationalen Festivalzirkus am Laufen. Auch in Salzburg, wo Flimm parallel eine weitere Intendanz vorbereitet, plant er am Netzwerk entlang. Ämterhäufung ist im Kulturbetrieb kein Thema.

Das selbst verliehene Alleinstellungsmerkmal der Triennale ist das von Mortier erfundene Format der „Kreationen“, das im Prinzip nichts anderes ist als eine Lizenz zu genre- und spartenübergreifenden Kooperationen. Dass die „Kreationen“ der letzten Jahrgänge bisweilen intensive, beglückende und erhellende Abende hervorbrachten, verbietet im Rückblick das Ramschtisch-Etikett „Crossover“, für die laufende Spielzeit drängt es sich in der vorläufigen, sehr gemischten Bilanz jedoch beinahe wieder auf. Am Anfang war der Wurm drin: Die nach Mutwillen riechende Kreuzung der Werbeikone Veronica Ferres mit dem Dichter Wilhelm Genazino im Projekt „Courasche“ scheiterte bereits vor Probenbeginn, die Ferres kniff. Die Eröffnung bescherte mit Johan Simons Calderón-Adaption „Das Leben ein Traum“ in der Gladbecker Zeche Zweckel einen Abend mit hinreißender Darstellerkunst und einer ausgeklügelten Live-Tonspur. Peinlicher Ausfall dagegen war Klaus Umbachs kümmerlich humorloser Versuch einer Bayreuth-Verhohnepipelung, betitelt „Wahnfried“. Der „Rubens“-Abend des Videokünstlers Philipp Stölzl reihte mit akribischem Aufwand lebende Bilder barocker Daseins- und Leibesfülle aneinander, Musica Antiqua Köln spielte dazu edle Weisen. Ein tieferer Sinn war indes in der treuherzigen Leben/Werk-Dialektik des Abends nicht auszumachen. Eine furios ekstatische Verausgabung dagegen zeigte Alain Platel mit seiner tänzerischen Bearbeitung von Monteverdis Marienvesper „VSPRS“.

Eine „Gebrauchsanweisung zum Glücklichsein“ in Anlehnung an die Betrachtungen von Michel de Montaigne verspricht nun der szenische Abend mit Kurt in der Essener Waschkaue, doch die ersten Worte stammen von Ernst Jandl. Montaigne kommt selten zu Wort, überhaupt haben Texte nicht viel zu sagen in diesem Spiel, das wohl der heiteren Gelassenheit des Essayisten auf die Spur kommen will. Die sechs Akteure betätigen sich in grauer Arbeitskluft zunächst einmal als stoische Straßenfeger, jeder mit seinem Häufchen beschäftigt.

Dem Stimmartisten und Musiker David Moss wird das irgendwann zu stoisch, und er fängt an, sein Geräuschinstrumentarium auf einem Würfel in Stellung zu bringen. Murmeln rollen, Schlagzeugbesen schaben, ein Trompeter improvisiert, die Tänzerin Junko Wada hat ein großes einsames Solo, ein barockes Deckengemälde wird nachgestellt, Kurt kriecht in einen Luftballon, wickelt sich in Stoffbahnen, bis er wie ein dicker Käfer auf dem Rücken liegt, drei Männer sprechen im Terzett sehr oft „nein“ in vielen Tonlagen, dann nicht ganz so oft „ja“. Die kleinen Szenen sind virtuos gemacht, leicht und manchmal heiter, verspielt und hübsch, doch will so gar nichts zurückbleiben davon. Soll es vielleicht auch nicht. Eine Petitesse eben.

Eine Großtat steht noch aus in dieser Triennale-Spielzeit: Bernd Alois Zimmermanns Opernmonstrum „Die Soldaten“ in der Regie von David Pountney unter der musikalischen Leitung von Steven Sloane. Allein das Ansinnen, das epochale, beinahe unspielbare Werk in der Jahrhunderthalle zu stemmen, darf als Verdienst gelten. Eine „Kreation“ ist das freilich nicht. Sondern nur die gute alte Tante Oper. In ihrer verstörenden Lesart des mittleren 20. Jahrhunderts.