Der Kampf der Rituale

In „Moolaadé“ von Ousmane Sembéne wehren sich Frauen gegen die rituelle Beschneidung

Große, die Welt umfassende Dramen können sich auch in kleinen, weltvergessenen Dörfern abspielen. Etwa in dem senegalesischen Wüstenkaff über dessen Tellerrand der inzwischen 82-jährige Altmeister des afrikanischen unabhängigen Kinos Ousmane Sembéne nicht ein einziges Mal seine Kamera blicken lassen muss, um eine universelle Geschichte von Bigotterie, Widerstand, Despotismus und Freiheit zu erzählen.

Wie alle tiefen, welthaltigen Erzählungen ist auch diese fest geerdet in einem authentisch dargestellten Milieu. „Moolaadé“ beginnt mit einer langen Plansequenz, die zwar stilistisch an ähnliche cineastische Ouvertüren von Orson Welles und Robert Altman erinnert, aber ihre Virtuosität eher verbirgt als ausstellt, denn hier folgen wir der Kamera nicht durch eine glamouröse Studiokulisse, sondern in den staubigen Innenhof einer afrikanischen Großfamilie. Sehr schnell werden die Machtverhältnisse klar: Der Mann ist der unbedingte, aber abwesende Herrscher, und so hat seine erste Frau das Sagen, doch die Lieblingsfrau des Patriarchen Collé weiß sich gegen sie durchzusetzen. Zu ihr flüchten vier kleine Mädchen, die an diesem Morgen in einem blutigen Ritual beschnitten werden sollen. Collé hat fürchterliche Geburtsnarben, da sie bei ihrer eigenen Beschneidung schwer verletzt wurde, und sie weigerte sich, ihre eigene Tochter beschneiden zu lassen. Sie nimmt die vier Mädchen unter ihren Schutz und nutzt dabei einen Brauch, der den Dorfbewohnern ebenso heilig ist wie das Ritual der Beschneidung: „Moolaadé“ ist ein Bann, durch den ein Ort für unangreifbar erklärt werden kann. Ein bunter Faden (kurioserweise in schwarz-rot-gold) wird über den Eingang des Hofes gespannt und danach wäre jeder, der einen Schützling aus diesem Asyl verschleppt, mit einem tödlichen Fluch belegt. Collé spielt also geschickt eine Tradition gegen die andere aus, und der Rest des Films besteht aus den verschiedenen Strategien und Gegenstrategien der Widersacher, die für oder gegen die Beschneidung der Kinder kämpfen.

Wie grausam dieses Ritual ist, erfahrt man etwa in einer (sehr dezenten) Liebesszene, bei der auf dem Gesicht der Frau nur Schmerz zu erkennen ist. Zwei kleine Mädchen stürzen sich lieber in einen Brunnen, als sich beschneiden zu lassen. Andererseits würde kein Mann des Dorfes eine unbeschnittene Frau heiraten, und so ist auch die Mehrzahl der Frauen im Dorf für das Ritual, sodass Collé von allen Seiten bedrängt und genötigt wird, ihren Schutzbann aufzulösen. Sembéne inszeniert zugleich so glasklar und mitreißend, dass jede Figur in diesem Mikrokosmos mit ihren Interessen, Widersprüchen und Zweifeln lebendig wird. So kommt der Sohn des fundamentalistischen Ortsvorstehers, der in Frankreich reich wurde, ins Dorf zurück, um dort die Tochter von Collé zu heiraten, was er aber nicht darf, weil sie ja unbeschnitten ist. Die Beschneiderinnen selbst wirken wie eine Meute von Hexen im Märchen. Doch Sembéne erzählt hier keine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Mit den leuchtend bunten Gewändern der Frauen und den runden Formen der Lehmbauten (ich habe in diesem Film keinen einzigen rechten Winkel gesehen) ist „Moolaadé“ zwar von großer, archaischer Schönheit, aber zugleich auch realistisches Kino reinsten Wassers. Man spürt, dass Sembéne hier unbedingt von den Missständen in seinem Land erzählen will, und als ein großer Filmemacher findet er dafür eindrucksvolle Bilder, die zugleich konkret und symbolisch ist. So etwa der brennende Berg aus allen Radios des Dorfes, die der Ortsvorstand beschlagnahmen ließ, weil die Frauen in ihnen nur „Unsinn“ hören. Einige Geräte dudeln weiter, und so erklingt aus diesem Scheiterhaufen der modernen Zivilisation eine Kakofonie aus Stimmen und Musik. Wilfried Hippen