Becks Welt liegt in Rheinland-Pfalz

Eine SPD-Programmkonferenz in Berlin gerät zur Demonstration des Politikverständnisses von Kurt Beck: Der Parteichef spricht jeden an und kümmert sich um alle. Aber kein einziger seiner Blicke geht über den Durchschnittshorizont hinaus

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Zuallererst begrüßt Kurt Beck den Jüngsten im Saal, einen Jungen namens Hannes, der zufällig im Publikum sitzt. „Wenn jemand drei Jahre alt ist“, sagt Beck, „dann soll er deswegen nicht vergessen werden.“

Anschließend begrüßt Kurt Beck Heinrich Aller, den SPD-Chef von Hannover. Der „Heiner“ wird heute 59 Jahre alt. „Alles Gudde, Heiner“, sagt Beck. „Eine gudde Zukunft für dich.“

Dann wendet sich Kurt Beck den über 300 Vorsitzenden der SPD-Unterbezirke zu. Sie stehen heute im Mittelpunkt. Sie sind von ihrem Parteivorsitzenden nach Berlin eingeladen worden. Hier im Willy-Brandt-Haus will die SPD-Spitze mit ihnen diskutieren, was es heutzutage heißt, Sozialdemokrat zu sein. Eine solche Debatte ist bitter nötig, schließlich wissen die meisten Genossen keine überzeugende Antwort mehr auf die Frage, wofür die SPD denn noch gut sein soll. Und im nächsten Jahr will die Partei ihr neues Grundsatzprogramm beschließen. „Ihr seid die wichtigste Schaltstelle für unsere Politik“, ruft Beck quer durch den Saal.

Nach Hannes, Heiner und den Funktionären kommt jetzt Deutschland an die Reihe. Beck hat eine Grundsatzrede über die „Zukunft der sozialen Demokratie“ angekündigt. Für viele mag das paradox klingen – Kurt Beck und Zukunft in einem Satz. Wenn der rheinland-pfälzische Ministerpräsident in seiner sorglosen Gemütlichkeit etwas verkörpert, dann die alte Bundesrepublik, also die Vergangenheit. Aber bevor man das an diesem Samstag überprüfen kann, verliert der Pfälzer doch noch schnell ein paar Worte über seine Heimat. In Trier hat die SPD die Oberbürgermeisterwahlen gewonnen. „Das ist ein bisschen so“, sagt Beck, „als hätte sich der Papst entschieden, evangelisch zu werden.“

Kurt Beck ist ein Vereinfacher. Er sucht das Große im Kleinen. Deutschland ist für ihn wie Rheinland-Pfalz. Wenn er von Zukunft spricht, dann meint er den Tag nach gestern. Alles andere sind Visionen, und Visionen sind seine Sache nicht. Seine Welt ist vor allem eines – übersichtlich. Denn nur in einer übersichtlichen Welt kann einer wie Beck Bürgermeister spielen. Die Menschen um sich herum versammeln. Sie einzeln ansprechen. Sich um sie kümmern.

Seine Zukunftsrede an diesem Tag besteht zu 90 Prozent aus Kommentaren zur Tagespolitik. Beck fordert von der Union im Streit über die Gesundheitsreform ein klares Signal der Verlässlichkeit. Beck unterstützt die Entscheidung der Sozialdemokraten in Berlin für Rot-Rot. Beck unterstützt die Entscheidung der Sozialdemokraten für Rot-Schwarz. Beck kritisiert die Siemens-Manager für die BenQ-Pleite. Beck zeigt für das Stuttgarter Hakenkreuz-Urteil kein Verständnis. Kein einziger seiner Blicke geht über den politischen Durchschnittshorizont hinaus.

In den letzten fünf Minuten seiner Rede spricht der SPD-Chef über das neue Grundsatzprogramm. Beck und Parteiprogramm – schon wieder so ein antagonistischer Widerspruch. Beck weiß nicht, wie man ein modernes Programm auf der Höhe der Zeit formuliert. Er hätte auch keinen Spaß daran. Interessant sind seine Ausführungen allein deswegen, weil er vor ein paar Wochen versucht hat, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Mit seinem Satz von den „Leistungsträgern“, um die sich die SPD wieder mehr kümmern müsse, wollte er die „neue Mitte“, von der sein Vorgänger Gerhard Schröder gesprochen hat, von ihrem modischen Schnickschnack befreien. „Mitte“ ist für Beck kein Begriff der politischen Wissenschaft – „Mitte“ steht bei ihm als Synonym für die Millionen von Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen und anständig leben.

Das „Leistungsträger“-Interview hat ihm den Vorwurf eingebracht, die Armen und Abgehängten links liegen lassen zu wollen. Deswegen setzt Beck heute einen anderen Akzent. „Wir werden die schwachen Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, nicht aus den Augen verlieren“, sagt er. „Niemals.“ Aber natürlich vergisst er nicht hinzuzufügen, dass sich die SPD auch um diejenigen kümmern müsse, die für den Wohlstand in dieser Gesellschaft sorgen. In Becks Welt hat jeder seinen Platz.

In der anschließenden Debatte ist zu beobachten, wie verunsichert die Funktionäre über den Kurs ihrer eigenen Partei sind. „Rücken wir jetzt mehr in die Mitte, oder kümmern wir uns noch um die Leute ganz unten?“, fragt eine Frau. Und ein Genosse aus Sonneberg in Thüringen erzählt, dass er im letzten Wahlkampf 4.000 Haushalte besucht hat. „Viele von denen waren auf Hartz IV und abgehängt“, sagt er. „Die waren froh, dass wir ihnen überhaupt mal zugehört haben.“

Beck nickt. Er fordert die Bezirkschefs auf, sich mit Ideen und Kritik in der SPD-Zentrale zu melden. „Zum Dialog bin ich jederzeit bereit“, sagt Beck. „Wir sind doch eine lebendige Partei.“