Das Kalkül des „Großen Führers“

Russland und China rufen nach Nordkoreas Atomtest-Ankündigung zur Ruhe auf

PEKING taz ■ Ruhe bewahren! Mit diesem Appell reagierten die russische und die chinesische Regierung gestern auf die Ankündigung Nordkoreas, „in Zukunft“ einen Atomtest zu unternehmen. China hoffe, dass Pjöngjang „sich in der Atom-Frage zurückhält“, erklärte der Sprecher des chinesischen Außenamtes, Liu Jinchao. Zugleich warnte er andere Länder davor, „Schritte zu unternehmen, die die Situation verschärfen können“.

Dies richtete sich offenkundig gegen Forderungen Japans, der USA und Frankreichs nach Sanktionen durch den Weltsicherheitsrat, der gestern in New York über den Konflikt beriet. Auch der australische Regierungschef John Howard warnte Nordkorea im Sender ABC vor „schwerwiegenden Konsequenzen“ eines Atomtests und mahnte für diesen Fall eine „maximale internationale Reaktion“ auf diplomatischer Ebene an.

Die Atomtest-Pläne begründete das Regime des „Großen Führers“ Kim Jong Il unter anderem damit, dass es sich gegen einen befürchteten Angriff der USA rüsten müsse. Beobachter glauben, dass Nordkorea sechs oder acht Bomben bauen könnte.

Kim will die US-amerikanische Regierung offenbar mit allen Mitteln zwingen, direkt mit ihm zu verhandeln. Die USA sollen das Überleben des Kim-Regimes garantieren und zugleich alle Wirtschaftshindernisse gegen Pjöngjang aufheben. „Nordkorea will alle schockieren“, sagt ein südkoreanischer Experte. „Sie sind unfähig, die Lage richtig einzuschätzen.“

Die USA bestehen darauf, Verhandlungen nur im Rahmen der von China organisierten „Sechser-Runde“ zu führen, zu der außerdem Südkorea, Japan, Russland gehören. Daran nimmt Nordkorea aber seit dem vergangenen Jahr nicht mehr teil.

Es ist bekannt, dass die Pekinger Politiker hinter den Kulissen höchst erzürnt über die atomare Erpressungspolitik des kleinen Nachbarn sind. Kim und seine Generäle glauben offenbar, dass sie wenig zu verlieren und viel zu gewinnen haben: Die USA, so ihr Kalkül, werden ein Land mit Atomwaffen – anders als etwa den Irak – nicht angreifen. Die Nachbarn China und Südkorea wiederum würden nach einem nordkoreanischen Atomtest keine harten Sanktionen gegen Pjöngjang akzeptieren, weil sie nicht zusehen wollen, wie das Regime zusammenbricht.

Ein Atomtest könnte innenpolitisch dazu dienen, die nordkoreanische Bevölkerung noch einmal zu mobilisieren. Dem Land stehen wieder bittere Monate bevor. Brennstoff, Lebensmittel und Medikamente fehlen. Im vergangenen Winter konnten die Bewohner in Pjöngjang ihre Wohnungen zeitweise auf höchstens sieben Grad heizen. In diesem Jahr wird es nicht besser. Das öffentliche Versorgungssystem ist zusammengebrochen, Korruption und Schwarzhandel blühen. JUTTA LIETSCH