Die mit den Wölfen heult

Viktor Pelewin schreibt in seinem neuen Roman hart entlang dem realen Russland, verliert sich aber auch im Mythos des Werwolfs

VON JÜRGEN BERGER

Ihr Geheimnis versteckt sie hinten – dort, wo nach dem Fall der letzten Hüllen ein Fuchsschweif zum Vorschein kommt. Da sitzt bei der Prostituierten mit dem Namen A Huli nämlich auch ein Imaginationslaser. Mit ihm kann sie jeden Mann ins Cybersex-Reich schicken, ohne selbst je die Jungfräulichkeit zu verlieren. A Huli ist zwar berückend schön, sie ist aber auch eine Werfüchsin, die seit Jahrhunderten wie eine wandelnde Enzyklopädie der Lust durch die Geschichte, vor allem aber die Literaturgeschichte Russlands geistert. Puschkin zählte zu ihrer Kundschaft. An Nabokov kam sie nie ran, an Dostojewski schon. Ihr neuester Freier heißt Alexander, hat mit Literatur nichts zu tun, sieht dafür gut aus und ist nebenbei Generalleutnant jener Organisation, die sich „Förderaler Sicherheitsdienst“ (FSB) nennt. Als Nachfolgeorganisation des KGB ist sie derart mit den Öl-Oligarchen und mafiösen Strukturen des heutigen Russlands verbandelt, dass auf den Gehaltslisten der diversen Organisationen lange gleichlautende Passagen auftauchen dürften.

So die Ausgangsposition in Viktor Pelewins neuem Roman „Das heilige Buch der Werwölfe“, und bald wird es politisch. Der FSB-Beau partizipiert nämlich einerseits an der Korruption, andererseits ist er aber auch ein strammer Patriot und geißelt im Stile eines Post-Marxisten die Plünderung Russlands durch die neuen Profiteure. Nachdem er A Huli mehrmals im Maybach zu seiner Hightech-Lounge über den Dächern Moskaus chauffieren ließ, wird er der Lover der Werfüchsin, die erst nach einiger Zeit bemerkt, welchen Volltreffer sie gelandet hat: Der Mann ist ein formidabler Werwolf. Fortan muss A Huli sich nicht mehr mit minderen Menschenmännchen begnügen, aber auch realisieren, dass ihr Fuchsschwanz-Laser bei Alexander nicht funktioniert. Die fliegende Sex-Holländerin ist in den Gefilden der alltäglichen Liebe gelandet.

Da Pelewin jetzt plötzlich zwei Exemplare aus dem Dunstkreis der Vollmondanbeter in seinem Roman versammelt, heißt es, sich darauf einzustellen, dass noch einige Exkurse über den Werwolf an sich folgen. Die gab es bis zu diesem Punkt schon zur Genüge, und es stellte sich die Frage, ob man tatsächlich alles über die sich wiederholenden Eigenheiten der Huli-Girls wissen will, die von England über Thailand bis nach Moskau ihre Fuchsschwänze spielen lassen. Pelewin, der in Russland vor allem wegen „Generation P.“ Kultstatus genießt, wartet jetzt mit einem Overkill an enzyklopädischen Verweisen auf und vertieft sich derart in werfölfische Eigenheiten, dass er gelegentlich völlig seine Geschichte vergisst.

So wie die Werfüchsin demonstriert, dass sie ein in Jahrhunderten gereifter Zitatenspeicher ist, so verliert sich auch das „Heilige Buch der Werwölfe“ immer wieder in eklektizistischen Spielereien – bis hin zu jener Passage, in der Pelewin, ausgehend von Viscontis „Tod in Venedig“, in einem Gespräch zwischen Alexander und A Huli mal kurz alle möglichen Filme von David Lynchs „Mulholland Drive“ bis hin zu Baz Lurmans „Romeo-und-Julia“-Verfilmung abwatscht oder lobt.

Dabei geht es an dieser Stelle nur darum, dass A Huli eine Einsicht hat. Alexander und sie müssen nur ihre Werschwänze umeinander schlingen, um den phänomenalsten Sex aller Zeiten zu haben. Natürlich funktioniert das nur über illusorische Anreize. Als bestes Sprungbrett erweist sich Wong Kar-Wais Film „In the Mood for Love“ – schon geht es ab in die phänomenale Welt der Werlust mit der ernüchternden Erkenntnis, dass es bei Werwolfs daheim auch nicht anders zugeht als bei Meiers nebenan. Hier wie dort ist guter Sex eine Frage illusorischer Stimulation, wobei er es in der Regel eher hart, sie dagegen romantisch mag.

Interessant ist auch hier, dass Pelewin ein Konzept der postmodernen Collage umsetzt, stilistisch aber nur dann stark wird, wenn er wie im ersten Drittel etwas zu den Untiefen weiblicher Schönheit zu sagen hat oder aus dem Leben der Werwölfe im heutigen Russland mittels einfacher Geschichten erzählt. Da kann es dann geschehen, dass Alexander seine geliebte Füchsin anruft, damit sie an einem seiner FSB-Einsätze teilnimmt. Plötzlich steht man vor einem gerade versiegenden sibirischen Ölfeld, und die Sondereinheit des Geheimdienstes entpuppt sich als Wolfsrudel, das die Pipeline anheult, um sie wieder flüssig zu machen. In solchen Passagen gelingt es Pelewin, seine Werwolfgeschichte in Atmosphäre zu übersetzen. Stark wird er als Erzähler auch gegen Ende, wenn er mit der nüchternen Erkenntnis aufwartet, dass auf das Stadium der Verliebtheit die Profanisierung der Liebe folgt.

Irgendwann hat A Huli ihren Alex dann doch auf den Mund geküsst und ein Tabu des Werwolfwesens gebrochen. Bezahlen muss der große böse Kuschelwolf mit einer Transformation zum gewöhnlichen Hund. Da wird der Leser dann auch aus der surrealen Welt der Werwölfe entlassen und darf einem Paar folgen, das wie eine ganz normale Unglücksgemeinschaft in einem Betonrohr am Stadtrand haust. Für A Huli ist das das Paradies. Den Patrioten Alexander allerdings zieht es doch zurück in den Schoß des Dienstes, auch wenn er nie jener so heiß ersehnte Über-Werwolf sein wird.

Viktor Pelewin: „Das heilige Buch der Werwölfe“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Luchterhand, München 2006,350 Seiten, 19,95 Euro