Die Partei, die Masse und das Realitätsprinzip

Vor dreißig Jahren fand Chinas Kulturrevolution mit dem Sturz der „Viererbande“ ein jähes Ende. Auch die westliche maoistische Linke musste sich danach neu orientieren. Die Geschichte einer Enttäuschung

von CHRISTIAN SEMLER

Gestern, am 6. Oktober, war es dreißig Jahre her, dass in China die „Viererbande“ gestürzt und das Ende der Kulturrevolution, die einst „groß“ und „proletarisch“ hieß, eingeläutet wurde. Aber wer, zum Teufel, war diese Bande, wer kennt noch die Namen Wang Hongwen, Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan? Allenfalls bei der Vierten im Bunde, der bösen Mao-Witwe Jiang Qing, rumort es noch im Hinterkopf. Die „Viererbande“ war eine Gruppe linker Radikaler in der Führung der Kommunistischen Partei gewesen. Mit Ausnahme von Wang Hongwen, einem in der Kulturrevolution in die Parteispitze aufgestiegenen jungen Arbeiter, bestand dieser Flügel der Parteiführung aus Intellektuellen, die im Propagandaapparat der KP gearbeitet hatten. Ihre soziale Basis hatte die Gruppe hauptsächlich im „roten“ Schanghai, wo 1967 eine kurzlebige Kommune nach dem Vorbild der Pariser Commune proklamiert worden war.

Nach ihrem Sturz und einer heftigen Propagandaoffensive der neuen Parteiführung unter Hua Guofeng, einem Maoisten ohne Verbindung zur linksradikalen Fraktion, wurde der Viererbande zu Beginn der 80er-Jahre der Prozess gemacht. Am Ende standen zwei Todesurteile „auf Bewährung“, die dann in lebenslanges Gefängnis umgewandelt wurden, und zwei langjährige Gefängnisstrafen. Wenn auch viele der Anschuldigungen ohne Beweise vorgebracht wurden, so wurde doch offenbar, dass die „Viererbande“ eine Art Hofkamarilla mit privilegiertem Zugang zum Vorsitzenden Mao gewesen war, alles andere als selbstlos und dem propagierten einfachen Lebensstil verpflichtet, noch dazu schuldig der Verfolgung zahlloser untadeliger Intellektueller, patriotischer wie kommunistischer Gesinnung. Als das Intermezzo mit Hua als Parteiführer 1981 vorbei war und Deng Xiaoping die Macht ergriffen hatte, wurde in China und der internationalen Öffentlichkeit das Ausmaß der Opfer offenbar, die die zehn Jahre der Kulturrevolution gefordert, die Verwüstungen, die sie in der Ökonomie ebenso wie in den sozialen Beziehungen hinterlassen hatte.

Millionen aufs Land geschickter Jugendlicher sahen sich als „verlorene Generation“. Die „Literatur der Wunden“ suchte diesem Gefühl Gestalt zu geben. Jetzt waren alle verratene Idealisten und Opfer der Tyrannei. Hingegen blieb das Verhältnis der Bauern zu den Neuankömmlingen, das, was sie von ihnen gelernt, und das, was sie ihnen beigebracht hatten, lange Zeit unterbelichtet. Die Mehrzahl der ehemaligen Linksradikalen kämpfte um ein Auskommen im China der Deng’schen Marktreformen. Aber nicht wenige der Rotgardisten nahmen in den frühen 80er-Jahren und später, 1989, auf dem Tiananmen-Platz an der Demokratiebewegung teil. Obwohl die Deng’sche Parteiführung Maos Lebenswerk grosso modo verteidigte, galt der Vorsitzende doch in den Augen vieler seiner ehemaligen Bewunderer als Inspirator des Terrors. Nicht nur als „fünftes Mitglied“ der Viererbande, sondern während seiner gesamten Regierungszeit als grausamer Kaiser, der seinen Visionen Millionen Menschen geopfert hatte.

Bei den westlichen radikalen Linken (nicht nur den Maoisten) folgte auf die Identifikation mit den Befreiungsbewegungen und dem sozialistischen Aufbau in China wie in anderen Ländern der Dritten Welt eine Phase der Enttäuschung und Ernüchterung. Speziell im Blick auf China mischte sich Bewunderung über die Erfolge der Deng’schen Reformpolitik mit zunehmendem Schrecken über die sozialen Kosten, die der chinesische Weg im Gefolge hatte. Aber aus diesem Schrecken folgte bislang kaum Solidarisierung mit den Kämpfen, die spontan, vereinzelt, unkoordiniert seit den 90er-Jahren in China immer wieder aufflammen. An die Stelle des leidenschaftlichen „Hier und Jetzt“ der Revolution ist Distanz getreten, die Betonung des tiefen Grabens, der „uns“ von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Chinas trennt.

Ist es also überhaupt sinnvoll, der Frage nachzugehen, warum die chinesische Kulturrevolution einen so profunden Einfluss auf viele der westlichen linken Radikalen ausgeübt und bis ins Milieu der Linksliberalen ausgestrahlt hatte? Auf einer Diskussionsrunde im Berliner „Klub der polnischen Versager“ brandete jüngst Unwille hoch, sich mit einem Thema zu befassen, das als K-Gruppen-Selbstbeweihräucherung und völlig irrelevant für das Verständnis des heutigen China wie der gegenwärtigen Welt bezeichnet wurde. Dennoch: In den Motiven der damaligen Fans der Kulturrevolution findet sich manches, das mit den Zeitläuften nicht zuschanden wurde.

Man hat den studentischen Anhängern der Kulturrevolution „im Westen“ wie auch den späteren maoistischen Parteien, Gruppen und Bünden nach 1970 vorgeworfen, ihr Engagement für die Kulturrevolution sei gänzlich abstrakt und von Kenntnissen der realen Zustände Chinas völlig unbeleckt gewesen. Ganz nach dem Motto „Je weiter die Entfernung, desto anziehender die Revolution“. Der Vorwurf des Exotismus ist nicht unberechtigt, verfehlt aber die Hauptsache. Die radikalen Linken, nicht nur die späterer maoistischer Orientierung, hatten in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht ein anderes Koordinatensystem als die traditionelle Linke. Sie waren überzeugt von der Aktualität des Kommunismus, und dies im Weltmaßstab. Alles konnte überall und womöglich gleichzeitig passieren. Sie waren misstrauisch gegenüber dem Denken in Etappen, misstrauisch gegenüber dem Erfordernis der ökonomischen Reife als Vorbedingung der Revolution. Deshalb war für sie die Masseninitiative am wichtigsten, das Primat des politischen Bewusstseins – der revolutionäre Wille.

Die maoistische Linie der Fortführung der Revolution unter der Diktatur des Proletariats galt vielen der radikalen Linken im Westen als Absage an eine Vorstellung, wonach der Sieg des Sozialismus die Klassenwidersprüche allesamt in „nichtantagonistische“ verwandeln würde, sodass eigentlich nur noch der Widerspruch zwischen sozialistischen Produktionsverhältnissen und den zurückgebliebenen technisch-ökonomischen Produktivkräften zu lösen wäre. Also eine These der harmonischen, nur von außen, vom Imperialismus bedrohten Entwicklung. Wer aber sollten denn nun die Gegner sein, denen gegenüber die Revolution fortgesetzt werden musste? Dies waren nach Maos These diejenigen Teile des Parteiapparats, die „den kapitalistischen Weg“ gingen, die „Massen“ unterdrückten, die korrupt waren und sich bereicherten. Die Theorie von der Fortführung der Revolution setzte voraus, dass die Massen überhaupt zum Handeln befähigt wurden. Deshalb interpretierten die maoistischen Linken im Westen das kulturrevolutionäre Recht, große Debatten zu führen, Wandzeitungen zu erstellen, Meinungen frei zu äußern sowie später auch das Streikrecht als Instrumente der Massenerhebung gegen den Parteiapparat. Die maoistische Linke sah die Kulturrevolution als eben diese geglückte Erhebung gegen die neue Parteibourgeoisie. Für sie war die ununterbrochene Revolution der einzige Weg zur sozialistischen Demokratie.

Aber hatte diese Auffassung überhaupt eine Grundlage in den Fakten? Seit wann, resümierte kürzlich ein Chinakenner süffisant, entsteht eine Massenerhebung auf der Basis einer Resolution des Zentralkomitees, wie es bei der chinesischen Kulturrevolution mit der 16-Punkte-Erklärung vom August 1966 tatsächlich der Fall gewesen war? Vielen Experten stellt sich heute die Kulturrevolution nur als Machtkampf zweier Gruppierungen an der Spitze dar, in dessen Verlauf Mao die Massenbewegung erzeugt, instrumentalisiert und dann, nach der Niederschlagung seiner Gegner, wieder abgestellt hat.

Sicherlich war die Lesart der westlichen Maoisten von der Spontaneität der Massenrebellion in der Kulturrevolution naiv und ohne Kenntnis der parteiinternen Vorgänge. Aber gerade aus den späteren autobiografischen Zeugnissen der Rotgardisten können wir schließen, dass die Kulturrevolution ihnen die Gelegenheit bot, mit den verhassten Parteiautoritäten in den Schulen, den Unis, den Betrieben und in den Volkskommunen abzurechnen. Die Kulturrevolutionäre waren eben nicht nur Werkzeuge in der Hand der Mao-Fraktion. Auch nach der Entmachtung der Roten Garden 1967/68 stellten sie in den neu begründeten Revolutionskomitees als „Vertreter der Massen“ ein noch nicht stillgelegtes Potenzial dar, obwohl diese Komitees von den Militärs dominiert wurden.

Gegenüber dieser Interpretation wird stets ins Feld geführt, die Kulturrevolutionäre hätten nur Befehle „von oben“ ausgeführt, ihre Haltung gegenüber gegnerischen Parteimachthabern sei gewesen: „Reißt sie vom Pferd, damit wir sie treten können.“ Solche Auffassungen stützen sich auf eine Argumentation, die politischen Konformismus als tief begründet in der chinesischen Tradition erklärt. Ganz so, als ob die chinesische Geschichte nicht auch geprägt wäre von Massenrebellionen.

Sicher waren die chinesischen Roten Garden nicht antiautoritär im westlichen Sinn, hatten nicht die Vorstellung von Selbsttätigkeit und partizipatorischer Demokratie, die das Projekt der Rätedemokratie im Milieu der deutschen Linksradikalen beflügelt hatte. Aber in der Idee einer künftigen Föderation der Kommunen, in der Forderung nach Basisdemokratie in den Betrieben und den Volkskommunen kamen sich beider Vorstellungen nahe. Dieses Projekt einer permanenten Versammlungsdemokratie ging allerdings einher mit einer romantischen Ablehnung auf lange Dauer berechneter Institutionen und einer ausgesprochenen Verachtung des Rechtsstaats wie überhaupt der Balancierung der Gewalten. Hinter solchen Anschauungen stand im chinesischen wie im deutschen Fall die Vorstellung von der „Weisheit des Volkes“ (so der Ausdruck Bertolt Brechts), also einem Alltagsverstand, der sich in den Klassenauseinandersetzungen gebildet hatte und kraft dessen man gemeinsam schon die richtigen Lösungen finden würde. „Identitär“ im Sinn einer vorgegebenen und vorgängigen Einheit des Volkes sind diese Vorstellungen allerdings nie gewesen.

In der Kulturrevolution fanden die radikalen maoistischen Linken Material für die Auffassung, dass der Sozialismus – im Gegensatz zum naturwüchsig funktionierenden Kapitalismus – nur das Werk einer bewussten Aktion, eines ständig erneuerten politischen Entschlusses, sein konnte. Die Kritik der chinesischen Radikalen an der „reaktionären Theorie der Produktivkräfte“ traf hier auf ein Vorverständnis der westlichen Linksradikalen. Wie sollte eine sozialistische Wachstumspolitik je zum Kommunismus führen? Es galt, die sozialen Beziehungen zu revolutionieren, also das Schwergewicht auf die Produktionsverhältnisse zu legen. Und was die Produktivkräfte anbelangt, so war deren wichtigste der Mensch. Der Kommunismus konnte sich nur durchsetzen, wenn von vornherein „kommunistische neue Dinge“ der gesellschaftlichen Entwicklung als Richtschnur dienten. Und bestand nicht auch im Sozialismus die Gefahr, dass Produktivkräfte in Destruktivkräfte umschlugen? Eine Tendenz, die die Linksradikalen des Westens anhand der Kriegsproduktion wie auch anhand unzähliger überflüssiger Konsumprodukte nachzuweisen versuchten. Viele der westlichen Linken verabscheuten die „bunte Warenwelt“, wie sie die chinesischen Kulturrevolutionäre nannten. Und die westlich-linke Einheitskleidung bestand als Pendant zum chinesischen Einheits-Look aus Parka und Jeans.

Was aber viele der radikalen Linken des Westens am meisten am chinesischen Beispiel anrührte, war die „Revolution in der Seele“. Sie glaubten, dass die Kraft zur Selbstbefreiung und zur Befreiung durch sie freigesetzt würde. Die meist dem bürgerlichen Milieu entstammenden westlichen Anhänger Maos wollten den entschiedenen Bruch, wollten den Verrat an der eigenen Klasse. Sie fühlten das Bedürfnis, die eigene augenblicklich wie künftig privilegierte soziale Stellung abzustreifen (damals gab es noch keine nennenswerte Arbeitslosigkeit unter Akademikern). Sie wollten „dem Volke dienen“. Einen starken Nachhall hatte diese kulturrevolutionäre Parole bei den radikalen Angehörigen jener Berufsgruppen, die kraft ihrer Ausbildung die Chance zur unmittelbaren, sichtbaren Hilfe hatten: also den zukünftigen Ärzten, Lehrern, Angehörigen sozialer Dienste, auch Geistlichen – und überraschenderweise vielen Juristen, die sich auf die Seite der Ausgebeuteten stellen wollten. Kein Wunder, dass die in China praktizierte Massenverschickung von Oberschülern und Studenten aufs Land von den westlichen Maoisten als freiwillig verstanden wurde (und es anfänglich oft auch war). Das Pendant hierzu war die Arbeit westlicher radikaler Intellektueller, keineswegs nur Maoisten, in den Betrieben. Eine mit großem Enthusiasmus betriebe „Hinwendung zum Proletariat“, die allerdings meist von kurzer Dauer war. Denn für den Rausschmiss dieser Fremdkörper sorgten hierzulande schon die Betriebsräte.

Hinter dem Versuch, aus dem Intellektuellenstatus auszubrechen, stand eine Idee, der schon Marx angehangen hatte. War es möglich, den Unterschied zwischen Kopf- und Handarbeit, zwischen Stadt und Land, zwischen den sozial konstruierten Geschlechterrollen aufzubrechen? Galt ein für alle Mal, dass die gesellschaftliche Differenzierung und Spezialisierung untrennbar mit dem einmal erreichten Stand der Arbeitsteilung verbunden war? War insbesondere die politische Sphäre ein Subsystem, das eigenen Regeln folgte, eigene Spezialisten erforderte? Die westliche maoistische Linke war fasziniert von der Idee, dass prinzipiell jeder Mann und jede Frau in der Lage sein müsse, staatliche Führungsaufgaben zu bewältigen – ganz so, wie Lenin eine gute Köchin im sozialistischen Noch-Staat hierzu für fähig hielt.

Während ältere maoistische Parteien, die sich im chinesisch-sowjetischen Konflikt von der jeweiligen Mutterpartei abgespalten hatten, von der Kulturrevolution fast unberührt blieben, bildete für die verschiedenen maoistischen Neugründungen der frühen 70er-Jahre die Kulturrevolution das Lebenselixier. In dem Maße, wie die Hinwendung zum Proletariat schwierig wurde, man sich selbst isolierte und vom Staat wie von großen Teilen der Gesellschaft stigmatisiert wurde, setzte rasch ein Prozess der Verknöcherung und Dogmatisierung ein. Was einen nicht mehr selbst als Organisation und als (permanent zu revolutionierendes) Individuum betraf, lebte in der Theorie fort – als Überzeugung, die Kulturrevolution habe dem sozialistischen China eine gänzlich neue und vorbildhafte Ordnung gegeben. Diese Überzeugung erlitt nach dem Sturz der Viererbande einen schweren Schlag. Die westlichen Maoisten ließen einen Teil ihrer großen Hoffnung fahren, sie akzeptierten das Realitätsprinzip, aber der große emotionale Schwung war dahin. Ein Glück, dass mit der Anti-Atom- und Friedensbewegung in Deutschland wirkliche Massenbewegungen entstanden. Sie profitierten in ihrer Frühzeit vom Arbeitseifer und der Hingabe mancher der ehemaligen glühenden Anhänger der Kulturrevolution.

Heute existiert der Begriff der Kulturrevolution nur noch im Arsenal konservativer Autoren, die damit den ihnen verhassten kulturellen Schub der 60er-Jahre beschreiben. Die Verbindungslinien der damaligen studentischen Revolte mit der „Großen proletarischen Kulturrevolution“ in China hingegen sind gekappt. Dennoch werden – unter gänzlich geänderten Verhältnissen und auf anderen Schauplätzen – solche gedanklichen Verbindungslinien neu geknüpft, beispielsweise auf den internationalen Sozialforen. Hier waltet nicht nur paternalistische, großmütige Hilfe der Linken aus den „reichen“ Ländern, sondern auch der Wunsch, sich von den sozialen Kämpfen der armen Welt inspirieren zu lassen. Die Hoffnung auf einen weltweiten emanzipatorischen Prozess ist so wenig totzukriegen wie die Idee, „jenseits des Kapitalismus“ existierten nicht nur Wolkenkuckucksheime.

CHRISTIAN SEMLER, 67, ist seit 1989 taz-Autor. In den 70er-Jahren war er Vorsitzender der 1980 aufgelösten maoistischen KPD/AO, 1978 war er Mitgründer der Alternativen Liste