Ventil für die Mittelschicht

Langzeitarbeitslose sind keine gesichtslose Masse, sondern Menschen mit individuellen Schicksalen. Warum die Debatte um Hartz IV und das „Unterschichten-Problem“ hierzulande falsch läuft

VON BARBARA DRIBBUSCH

Am vergangenen Wochenende war es mal wieder so weit: Die vielen Hartz-IV-Empfänger, die sich angeblich einrichten mit ihrer Stütze, gespensterten wie ein entwichener Flaschengeist durch die Presse. Vom „Unterschichten-Problem“ sprach SPD-Chef Kurt Beck und beklagte, dass viele Menschen am unteren Rand der Gesellschaft inzwischen jeden Aufstiegswillen vermissen ließen. Vorschläge der Union, wie man Hartz-IV-Empfängern die Stütze kürzen könnte, wurden fast zeitgleich veröffentlicht (siehe Kasten).

Doch was ist dran an diesem Gerede? Stimmt es vielleicht doch, dass Hartz IV die Arbeitsmoral der „Unterschicht“ versaut? Oder ist das nur eine Projektion der Mittelschichtmilieus, die mit ihren Steuern die Langzeitarbeitslosen mitfinanzieren müssen?

Schon die Fragestellung ist das Problem. Die „Unterschicht“ ist nämlich heterogener als jemals zuvor. Es handelt sich nicht um ein „Heer“ von Langzeitarbeitslosen, sondern um einzelne Menschen mit persönlichem Schicksal. Es war ja gerade die Politik, die durch eine vereinheitlichende Gesetzgebung hunderttausende höchst unterschiedlicher Betroffener – gering Qualifizierte, Kleinverdiener, chronisch Kranke, Alleinerziehende, Vorruheständler – in den großen Topf des Arbeitslosengelds II schaufelte. Diesen Hartz-IV-Empfängern durch eine vereinfachte Debatte über Arbeitsmoral ihre Subjekthaftigkeit abzusprechen, ist ziemlich dreist.

Die Unterschiede in der individuellen Verfassung können dabei größer kaum sein. Eine Langzeitarbeitslose schildert ihrem Arbeitsvermittler, sie könne den 1-Euro-Job in einem Kindergarten nicht annehmen, weil sie aufgrund einer Gemütserkrankung in Menschenmengen nicht funktioniere. Ein erfahrener Vermittler weiß, dass sich gerade unter Langzeitarbeitslosen tatsächlich viele psychisch Angeknackste finden. Er würde also nicht unbedingt kürzen, sondern nach Alternativen suchen. Nach den neuen Unionsvorschlägen jedoch könnte die Stütze unmittelbar gekappt werden.

Aber es gibt auch den 40 Jahre alten Tischler, der unter Vortäuschung von Rückenproblemen seinen Job bei einer Ausbaufirma gekündigt hat und nun insgeheim auf eine Mischung aus Hartz IV plus Schwarzarbeit setzt. Ein Vermittler in der Arbeitsagentur muss in der Lage sein, diesen Mann mit Maßnahmen und Angeboten zu überschütten, sodass eine Ablehnung schwer möglich wird. Das ist eine Frage der Beschäftigungsangebote. Die Sanktionsmöglichkeiten gibt es jetzt schon, dazu braucht es nicht die von der Union geforderten Verschärfungen.

Die beiden real erlebten Beispiele zeigen, dass die vermeintliche „Unterschicht“-Problematik eigentlich zu komplex ist, um mal eben ein paar politische Forderungen in die Welt zu blasen und so Dampf abzulassen. Doch die „Unterschicht“ wird damit zum Überdruckventil, mit dessen Hilfe sich die Mittelschicht zu entlasten versucht. Man fühlt sich etwas besser, wenn man über die Moral der sozial Schlechtergestellten räsonieren kann.

Doch das hilft niemandem wirklich. Auch eine freiberufliche AkademikerIn in ihren 50ern kann heute auf Hartz IV landen und plötzlich in den Verdacht geraten, sich mit der Sozialleistung und einem Hinzuverdienst „einzurichten“. Nach den Unionsvorschlägen müssten dann ihre erwerbstätigen erwachsenen Kinder für sie zahlen, bevor sie Arbeitslosengeld II bekäme.

Auch Angehörige der Mittelschicht können sich im Einzelfall selbst auf der anderen Seite des Grabens wiederfinden und dann feststellen, dass es vielleicht doch eher ums Geld geht. Und nicht um die Moral.