„Alles ist verzeihbar“

Die bequemen Heilsversprechungen der religiösen Rechten in den USA finden immer mehr Anhänger. Auf den sexuellen Wahn der Evangelikalen reagieren die Linken trotz Wahlkampf wie gelähmt

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

taz: Frau Herzog, die sexuelle Revolution begann in den USA, wo auch die mächtigste Pornoindustrie der Welt beheimatet ist. Woran liegt es, dass die christlichen Strömungen mit ihrem Kampf gegen Homosexualität, Teenagersex und Abtreibung so populär wurden?

Dagmar Herzog: Das sind sie wirklich geworden – bis in höchste Regierungskreise, in alle Bundesstaaten hinein, vor allem in die höchsten Justizkreise. Die USA sind jedoch ein gespaltenes Land. Natürlich gibt es promiskes Verhalten und auch Pornografie, sogar sehr viel, aber die religiöse Rechte hat massiv an Terrain gewonnen. Und zwar gerade durch das Weiterexistieren der sexuellen Revolution.

Inwiefern?

Nicht zuletzt wegen der Ambivalenzen, die die sexuelle Revolution selbst hervorgebracht hat. Die religiöse Rechte kämpft seit den Siebzigerjahren – und mit großem Erfolg seit Mitte der Neunzigerjahre – gegen Sexualaufklärung in der Schule, gegen Homosexualität und gegen Abtreibung, und die Widersprüchlichkeit, deren sich diese evangelikale Rechte bedient, liegt darin, dass die sexuelle Revolution ja tatsächlich viele Menschen überfordert hat. Verunsicherung wird geschürt; viele Menschen bangen, wie sie in der Ehe Dauer und Intensität vereinbaren können. Wobei die Evangelikalen subtil operieren – sie negieren nicht die Sexualität.

Kein Fegefeuer?

Und keine Höllenqualen, nein, wenn der Mensch sündigt und Sex hat. Alles ist verzeihbar, alles ist betrauerbar. Ihre Prediger sagen jedoch – das ist ihr Trick –, dass es den besten, ekstatischen, überwältigenden Sex nur in der Ehe geben kann und dass voreheliche Enthaltsamkeit die Ehe noch heißer macht.

Von Schwulen und Lesben wollen sie aber nichts wissen.

Nein, um Gottes willen. Doch unter den größten Eiferern gegen Homosexuelle treten welche öffentlich auf, die bekennen, selbst schwul gewesen zu sein. Und es jetzt nicht mehr seien. Panikmache gegen die Homo-Ehe war außerdem ausschlaggebend bei der letzten Präsidentschaftswahl.

Was begründet den Wahn, die amerikanische Welt von der sexuellen Revolution zu befreien?

Die Politisierung des Sexuellen überhaupt – auch dies eine Erbschaft der sexuellen Revolution. Die religiöse Rechte wurde in den Siebzigerjahren zuerst politisch aktiv im Kontext von offenem Rassismus gegen Afroamerikaner. In den letzten zehn Jahren ist Rassismus nicht mehr cool und die Homophobie und allgemeine Hysterie ob der sexualisierten Umwelt sind anstelle von Rassismus getreten. Homophobie ist für die religiöse Rechte politisch wie im Alltag identitätsstiftend. Zugleich – und da sind wir wieder beim Paradoxon – scheut man sich nicht, den Schwulen und Lesben alle möglichen Sexpraktiken abzugucken.

Und Präsident Bush stellt seinen neuen Aidsberater der Öffentlichkeit vor – einen offen schwulen Mann, dessen Lebensgefährte bei der Amtsübernahme im Weißen Haus neben ihm steht.

Ja, da ist wieder das Ambivalente. Die USA sind ja keineswegs ein durchweg homophobes Land; statistisch gesehen sinkt die Zahl der Bekenner zur Homophobie drastisch. Und trotzdem funktionieren homophobe Argumente im politischen Kampf wie geschmiert. Jedes Mal. Und es ist noch komplizierter: Denn dieser schwule Aids-Ambassador verteidigt Bushs Abstinenz- und Treue-Förderungsprogramme bei der HIV-Bekämpfung in Afrika und bestreitet energisch, dass dadurch Kondomprojekte gekürzt würden.

Derweil wird ein schwuler Abgeordneter der Republikaner dabei erwischt, wie er per Mail oder Telefon Parlamentshospitanten belästigt.

Woraus die Demokraten auf üble Weise ihren Nutzen ziehen wollen. Fatal ist, dass sie die Republikaner in sexuellem Reinheitsrigorismus noch übertreffen.

Immerhin haben die Demokraten den Fall aufgegriffen.

Im Wahlkampf, ja. Aber ansonsten war auf die Demokraten in der Verteidigung sexueller Menschenrechte nie Verlass. Das Gesetz zur Förderung von Abstinenz in der schulischen Aufklärung zum Beispiel war schon in der Clinton-Zeit durchgesetzt worden, als Reaktion auf Hillary Clintons Scheitern in der Gesundheitsreform. Sie brauchten ein moralisches Feld – und bedienten sich, ebenfalls die Sexualität politisierend, auf dem der religiösen Rechten. Die Demokraten, die Linken, haben keine Antwort auf den sexuellen Wahn der religiösen Rechten – sie sind gelähmt, weil sie die sexuelle Revolution nie geschätzt haben. Das ist bitter.