Ich-AG on tour

AUS RATHENOW JOHANNES GERNERT

Es passiert in Zenting, irgendwo in Bayern. Ihre Band heißt diesmal „Die Zitronentaler“, und sie spielen gerade ein Lied von Amanda Marshall, „Let it rain“. In der Zentinger Feuerwehrhalle riecht es nach gebratenen Hähnchen. Die Leute tragen Trachten, Hüte mit Gamsbärten, sie trinken Bier und essen Brezen. Barbara Clear singt dieses Lied von der Frau, die leidet. Aber niemand hört zu. Zuerst ist da so ein Schmerz, dann nur noch Wut. Barbara Clear beginnt das Publikum zu bewerfen – mit zerknüllten Ablaufplänen, Batterien, mit allem, was sie zu fassen bekommt. Als sie einen Gitarrenständer von der Bühne schleudern will, hält der Keyboarder sie gerade noch fest.

An diesem Abend beschließt die Clear: Die Bierzelte, Firmenfeste und Rummelplätze müssen ein Ende haben, endgültig. Sie weiß noch nicht genau, wie sie ihr Geld verdienen wird. Aber in den Rock-Balladen, Country-Songs und Blues-Stücken, die sie singt, tun ganz gewöhnliche Menschen manchmal ganz beachtliche Dinge. Sie muss nur ein bisschen so werden wie die Helden aus ihren Liedern. Die Leute sollen ihr endlich zuhören.

Barbara Clear geht zu einem Wirt, irgendwo im Bayerischen, sie sagt: „Ich möchte ein Konzert spielen. Es darf niemand rauchen. Und während ich spiele, wird auch nicht ausgeschenkt.“ – „Passt scho’, machma“, sagt der Wirt. Sie druckt Eintrittskarten, auf denen steht: Barbara Clear, American Music Live in Concert.

Keine vier Jahre später, am 24. April 2004, einen Tag nach ihrem 40. Geburtstag, spielt Barbara Clear in der Olympiahalle in München vor 8.000 Zuschauern. Niemand raucht und niemand trinkt. Aber alle hören ihr zu.

Jetzt, zwei Jahre später, hat sie sechs Hallen gemietet. In Bremen, Berlin, Leverkusen, Frankfurt, München und Innsbruck. Die größten Hallen, die es in diesen Städten gibt. Sie könnte 80.000 Karten verkaufen, an 80.000 Zuhörer. Sie hat ihre Tour „Zwergenaufstand“ genannt – die kleine Clear gegen die Plattenriesen. Es könnte ein Verlustgeschäft werden.

Barbara Clear sagt selbst, dass sie eine „Triebtäterin“ ist. Sie muss tun, was ihre Musik von ihr will. „Wenn die Musik will, dass ich viele Menschen erreiche, dann ist mein kleiner Kopf ganz schön gefordert.“ Die Musik will, dass sie Millionen erreicht, so steht es auf Clears Homepage, nicht nur ein paar tausend. Und sie will, dass Clear wirtschaftlich etwas riskiert. Sie wird keine 80.000 Karten verkaufen, so viel ist jetzt schon klar. Bisher sind es um die 10.000. Eigentlich sollten alle Konzerte im Oktober stattfinden. Sie musste verschieben, in den Dezember, ins nächste Jahr. Nur der Termin am Samstag in der Olympiahalle steht noch.

Vor ihrem ersten Konzert dort hat sie zweieinhalb Jahre lang in Stadthallen und Theatern gespielt und dabei für die großen Auftritte geworben. Sie nannte das die „Ticket-to-Munich-Tour“. Diesmal wollte sie es genauso machen, nur hatte sie keine zweieinhalb Jahre Zeit, sondern nur ein paar Wochen. Sie macht jetzt ganz schnell noch mehr Stadthallen-Termine, so viele wie möglich.

An diesem Abend spielt sie solch ein Konzert, in Rathenow, irgendwo in Brandenburg. Barbara Clear steht vor dem großen Spiegel neben Waschbecken, Seifenspender, Papierhandtuchstapel. Die Glühbirnen an den Schminktischen leuchten. Sie trägt die Jeans, die sie damals in der Münchner Olympiahalle anhatte, die cowboyspitzen Schuhe aus rotbraunem Leder, denselben Indianerschmuck. Nur ihre schwarzen Haare sind nicht mehr glatt, sie fallen jetzt lockig um ihr breites, rundes Gesicht. Barbara Clear hat ihre Gitarre umgehängt, sie fährt sich mit der Hand durchs Haar, sieht in den Spiegel, sagt: „Es geht um Ausstrahlung. Die kommt nicht vom Aussehen.“ Dann geht sie raus auf die Bühne.

Sie haben den ganzen Tag auf diesen Moment hingearbeitet. Barbara Clear und ihr einziger Helfer, Ralph Dittmar: Mittags um eins, nach ein paar Stunden Fahrt, haben sie den silbernen Opel-Van hinter dem Rathenower Kulturzentrum geparkt. Sie haben die Boxen reingeschleppt, die Endstufe, die Scheinwerfer, die Gitarren. Haben die weißen Vorhänge aufgehängt und die Scheinwerfer ausgerichtet.

Clear checkt den Sound. Dann baut sie vorn am Eingang den CD-Stand auf, mit den beiden lebensgroßen Clear-Postern. Dittmar sitzt währenddessen im Saal auf einem der samtroten Theatersitze, tippt auf einem schwarzen Kästchen herum und bereitet die Lichtshow vor. Er trägt ein etwas ausgebleichtes Clear-Shirt, noch mit den ursprünglich geplanten Oktober-Terminen. Die strähnigen grauen Haare hat er nach hinten gekämmt. Dittmar sagt: „Ich bin jetzt 53 Jahre alt. Ich habe noch nie einen Menschen erlebt, der mit so einer Granatenwucht durch die Welt geht.“ Er ist Clears Freund, ihr Fan, Lebensgefährte, ihr Manager, Marketingstratege, ihr Beleuchter, ihr Roadie. Sie machen das alles alleine – zu zweit. Die Olympiahalle zu buchen war seine Idee.

Das mit den beiden fing in Babenhausen an, in Hessen. Sie hat auf dem Rummel gespielt, neben dem Autoscooter, auf ein paar Holzpaletten. Er stand eine Stunde da und hat zugehört. Er dachte: Es ist doch ganz einfach. Sie hat eine wunderschöne Stimme, sie spielt großartig Gitarre. Man muss das den Leuten nur sagen. Er wusste, wie man für ein Produkt die Zielgruppe ausschöpft. Er hat damals Firmen beraten, er kannte die Marketinginstrumente. Aber Musik funktioniert anders. „Ich bin voll auf die Schnauze gefallen“, sagt Dittmar, „megacool“. Man konnte nie vorhersehen, wann viele Menschen kommen würden und wann fast gar niemand.

Eines Abends nach einem Konzert, im Hotelzimmer, sagt Barbara Clear, dass sie mit all den kleinen Auftritten zusammen bestimmt schon die Olympiahalle gefüllt hätte. Dittmar denkt: Die Idee ist gut. Am nächsten Morgen sagt er: „Ich glaub’, wir machen das.“

Es ist eine Story, die Clear-Story. Sie steht in Zeitungen, sie wird im Radio und im Fernsehen erzählt: Völlig unbekannte Folk-Sängerin mietet Olympiahalle. Ohne Labelvertrag, ohne Promoagentur. Nur sie und ihre Fans, so viele, dass sie die Olympiahalle füllen.

Jetzt aber steht Barbara Clear auf der Bühne, hinter den weißen Vorhängen. Vorn beugt sich Ralph Dittmar zum Mikrofon und schaut in den halbdunklen Saal. Gut hundert Rathenower sind da. Dittmar kündigt ihnen eine „totale Powerfrau“ an, sie habe viele Angebote von Plattenfirmen abgelehnt. „Das war schon stark, weil, die Angebote waren nicht so schlecht.“

Dann steht sie in der Kulisse, die sie vorhin noch aufgebaut haben. Die Vorhänge leuchten gelb, rosa, manchmal rot wie ein Sonnenuntergang. Sie spielt Janis Joplin, Deep Purple, ein paar eigene Sachen. Ihre Füße stampfen den Takt auf den Bühnenboden, manchmal lehnt sie sich zurück und wirft den Kopf in den Nacken. Nach dem ersten Song klatschen die Leute, einige johlen. Nach dem dritten Song klatschen und johlen und pfeifen alle. Und während der Lieder wippen manche auf den Stühlen, viele lächeln sehr zufrieden. „Wow, das fühlt sich gut an“, sagt Barbara Clear.

In der Pause sitzt sie am Stand in der Eingangshalle. Sie gibt Autogramme, verkauft CDs und ein Dutzend Tickets für die großen Konzerte. Auf dem Tisch steht eine silberne Box, die sich schnell mit Scheinen füllt.

Man muss sehr diszipliniert sein, um das durchzuhalten, sagt Barbara Clear. Anfahren, aufbauen, auftreten, verkaufen, signieren, nochmal auftreten, abbauen, abfahren. Man muss genug schlafen, und man darf sich am Vorabend nicht besaufen. Man muss es wollen.

Vielleicht muss man sich auch erinnern: an die Frankfurter Kneipen, in denen Barbara Klier nach dem Abitur anfing, 120 Mark für den Abend, ganz ohne Künstlernamen noch. An die Zeit als Taxifahrerin. Auf dem Rücksitz die Nutten, die Bänker. Vorn die roten Ampeln, ständig rote Ampeln.

Ralph Dittmar steht neben dem Clear-Poster, auf dem Bild beißt sie in ihre Gitarre. Diese Pause, dieser Stand zeigen, wie es funktioniert, sagt er: „Die Leute kaufen die CDs, weil sie die Frau im Konzert lieb gewonnen haben, als Dank.“ Sie kaufen im Jahr zwischen 20.000 und 30.000 Clear-CDs, das Stück zu 15 oder 20 Euro. Sie nehmen sie beim Konzert mit oder sie bestellen sie auf der Homepage. So eine CD kostet drei, vier Euro das Stück. Deshalb bleibt Barbara Clear ganz ruhig, wenn die Manager der großen Plattenfirmen ihr versprechen, sie könnten fünfmal so viele Clear-CDs verkaufen. Sie wäre dann in den Charts, aber sie würde nur einen winzigen Anteil der Einnahmen sehen. Wieso sollte sie das machen?

Jetzt hat sie ein Publikum, das ihretwegen kommt. Bodenständig hat sie es einmal genannt. Barbara Clear und ihre Fans sind sich sehr ähnlich. Es sind ganz normale Menschen, die klatschen, wenn sie sagt, dass Chart-Radio Müll ist. Die zufrieden wippen, wenn sie „Hotel California“ singt oder „Ruby Tuesday“. Die auch finden, dass deutsche Soldaten nirgendwo in der Welt etwas zu suchen haben. Die Wahrheiten mögen, die so einfach sind wie manche Songtexte.

Sie kämpft dafür, dass dieses Publikum größer wird. Zum ersten Mal verkauft sie ihre CD diesmal über einen Vertrieb. Sie bekommt bei Media-Markt ein eigenes Clear-Fach. Diesmal schickt sie das Album auch an die Musikredaktionen der Radiosender. Album für Album, während sie auch die vielen Zusatzkonzerte organisiert und die Werbetour für die großen Hallen.

Sie muss noch viele Tickets verkaufen, damit es sich rechnet. Aber Ralph Dittmar sagt: „Wenn man da 50.000 Euro draufzahlt, dann geht die Welt für die Clear auch nicht unter.“ Und sie sagt: „Wenn ich keine Angst hätte, wäre das nicht menschlich. Aber was stärker ist als meine Angst, ist meine Musik. Und die hört ja nicht auf zu existieren, wenn ich ökonomisch mal einen 75.000-Euro-Schaden habe.“ Sie zieht das jetzt durch. Sie muss das jetzt durchziehen.