„Das letzte Kindergartenjahr als Pflicht“

In Deutschland werden Familienprobleme traditionell als Privatsache angesehen – wer staatliche Hilfe braucht, gilt als Versager. Doch diese Mentalität muss sich angesichts zunehmender Verwahrlosung von Kindern ändern

taz: Herr Trümper, derzeit überbieten sich Politiker mit Vorschlägen, wie Kinder wirksamer vor brutalen oder überforderten Eltern geschützt werden können. Bricht jetzt eine neue Zeit an – oder ist das bloßer Aktionismus angesichts medienpräsenter Skandalfälle?

Olaf Trümper: Natürlich ist ein Teil Aktionismus. Wie ernst es der Politik ist, wird sich dann erweisen, wenn es um die Frage geht: Und wer finanziert die vielen neuen Programme? Gute Jugendarbeit kostet nun einmal Geld. Selbst wenn man Ehrenamtliche einsetzt, braucht es immer noch einen bezahlten Profi, der sie einweist und anleitet. Hier in Cottbus zum Beispiel betreut schon jetzt ein Sozialarbeiter 75 Familien. Das ist die Grenze der Belastbarkeit. Natürlich wissen wir, wie klamm die Kommunen finanziell sind. Aber wir brauchen auch Spielraum, um den Kinder helfen zu können. Hilfreicher als jedes Politikerversprechen wäre es, gemeinsam nach Mittelwegen zu suchen.

Wie könnte so ein Mittelweg denn konkret aussehen?

Ein Heimplatz kostet etwa 3.000 Euro im Monat. Eine Pflegefamilie aber, die ein Kind aufnimmt, erhält – neben 300 bis 400 Euro für den Unterhalt des Kindes – für ihren Aufwand gerade einmal 350 Euro. Ich möchte diesen Satz ein wenig anheben. Vielleicht entscheiden sich dann mehr geeignete Paare, ein Pflegekind aufzunehmen. Billiger als ein Heim wäre dies allemal. Allerdings: Endlos sparen lässt sich so nicht. Es gibt Kinder, die so traumatisiert sind, dass man sie nur bei Profis unterbringen kann.

Auch die Jugendämter müssen sich ja derzeit viel Kritik anhören. Ein Standardvorwurf lautet: Die Ämter entscheiden zu oft im Sinne der Eltern. Werden heute zu viele Kinder in Problemfamilien belassen?

Es gibt Zeiten, in denen ein Jugendamt nichts richtig machen kann. Entweder sind wir die Bösen, weil wir vorschnell Familien auseinanderreißen – oder wir gelten als die, die Kinder sehenden Auges ihren prügelnden Eltern überlassen. In der Praxis ist das nicht so einfach. Wir müssen Tag für Tag Rechtsgüter abwägen. Wir sollen ja auch Familien erhalten. Aber ich rate meinen Mitarbeitern schon, im Zweifel fürs Kind zu entscheiden. Im Übrigen hat auch unsere Macht Grenzen. So ist es etwa erst seit einem Jahr erlaubt, ohne Einwilligung der Eltern den Arzt zu befragen. Vorher musste also der mutmaßliche Täter zustimmen, dass das Jugendamt Infos über seine Taten erhält. Dieses Absurdum ist jetzt zum Glück qua Gesetz beendet.

Viele Experten sehen ja das Hauptproblem nicht darin, dass es zu wenig Hilfsangebote für Eltern gäbe – sondern dass gerade die, die es am nötigsten hätten, solche Offerten nicht nutzen. Braucht es mehr Zwang, wie derzeit etwa von Bayern gefordert wird?

Ja. Ich fände es gut, wenn Eltern verpflichtet wären, Kleinkinder regelmäßig zum Arzt bringen. Wir haben hier manchmal Kinder, deren Milchzähne völlig verfault sind, weil sie noch nie eine Zahnbürste gesehen haben. Oder die sich überall kratzen, weil sie voller Läuse sind. Außerdem sollten Ärzte regelmäßig in die Kitas gehen. Allerdings schicken ja gar nicht alle Eltern ihre Kinder in die Kita. Deshalb wäre es ein riesiger Fortschritt, wenn das letzte Kindergartenjahr Pflicht wäre.

Werden denn tatsächlich immer mehr Kinder misshandelt oder vernachlässigt?

Sagen wir mal so: Wir erfahren von mehr Fällen. Durch die Medienberichterstattung sind jetzt Nachbarn oder Lehrer sensibilisiert. Aber in der Tat wachsen nicht nur hier in Cottbus die Bevölkerungsgruppen, in denen sich die Problemfälle häufen.

Welche Familien sind denn besonders gefährdet?

Arme Familien, die sich über Jahre nicht aus ihrer prekären Lage befreien können. Wir haben hier immer mehr Familien, bei denen schon die zweite Generation von Sozialhilfe lebt. Das verschärft die Situation. Gefährdet sind auch junge Eltern, die die plötzliche Verantwortung für ein Kind überfordert. In den Städten ist das Problem offenbar größer als auf dem Land. Dort gibt es wohl noch eher eine Nachbarin oder Verwandte, die überforderten Eltern unter die Arme greifen.

In Finnland nutzen fast alle Eltern freiwillige Beratungsangebote, etwa durch Hebammen oder Sozialarbeiter. Hierzulande aber scheuen sich viele Eltern, Hilfsstellen aufzusuchen. Warum überdauert die Einstellung, selbst bei schweren Problemen nicht um Rat zu bitten?

Das ist eine Mentalitätsfrage. Es gibt die Tradition, Familienprobleme als Privatsache zu betrachten, über die man nicht mit Dritten spricht. Viele Eltern fühlen sich als Versager, wenn sie öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen. Und gerade das Jugendamt hat eine ganz schlechte Reputation. Die Leute verbinden es mit staatlicher Bevormundung. Ein besseres Image der Hilfsangebote – das würde viele Kinder vor einem Randdasein bewahren.

INTERVIEW: COSIMA SCHMITT