Leben muss sich wieder rechnen

Die Schrecknisse der Nazizeit an die aktuellen Debatten um die unnützen Unterschichten anschließen: Christoph Marthaler hat einen Liederabend über die Euthanasie in der Wiener Kinderpsychiatrie „Am Spiegelgrund“ inszeniert, mit dem in den Beelitzer Heilstätten die „Spielzeit Europa“ eröffnet wurde

von EVA BEHRENDT

Was spricht eigentlich gegen ein „sozialverträgliches Frühableben“? Leuchtet nicht jedem halbwegs Vernünftigen ein, dass lebensverlängernde Herzoperationen, Thalassotherapien und Volkshochschulkurse der Gesellschaft nur Kosten, aber keinen Nutzen bescheren? Am Tod führt ohnehin kein Weg vorbei. Und wo wir schon mal dabei sind: Was ist mit all den „Ballastexistenzen“, die lange vor dem Rentenalter überflüssig werden, weil sie schon hilfsbedürftig geboren wurden, weil sie zu viel trinken, rauchen und sich schlecht ernähren, unter Ängsten, Süchten, dumpfen Elternhäusern leiden?

Der schwergewichtige Festredner und Schauspieler Josef Ostendorf, der im Festsaal des einstigen Männersanatoriums zu Beelitz bei Potsdam gerade so eindringlich dafür plädiert, diesen „Ballast“ abzuwerfen, ist nicht der Einzige, der an diesem Theater- und Liederabend manchen Aspekt der aktuellen Unterschichtendebatte in ein sehr fahles Licht rückt. Immer wieder schlägt Christoph Marthalers „Schutz vor der Zukunft“ unheimliche Brücken zwischen den Euthanasieprogrammen der Nazizeit, biotechnologischen Visionen der Gegenwart und einer Gesellschaftspolitik, die sich rechnen muss.

Ursprünglich war „Schutz vor der Zukunft“ für die Wiener Festwochen 2005 konzipiert und dort im Jugendstiltheater des Otto-Wagner-Spitals aufgeführt worden. In derselben psychiatrischen Klinik, die damals noch „Steinhof“ hieß, waren Anfang der 40er-Jahre tausende von Menschen, die nicht der Nazi-Norm entsprachen, von ehrgeizigen Wiener Ärzten und Krankenschwestern mit offizieller „Ermächtigung“ und „zu wissenschaftlichen Zwecken“ getötet worden. Marthaler und seine Dramaturgin Stefanie Carp interessierten sich dabei vor allem für die ermordeten Kinder in der Abteilung „Spiegelgrund“, die behindert, schwer erziehbar oder auch einfach verwahrlost waren. Ihr Tod, glauben Historiker, war Teil eines Plans, der auf „eine Art Endlösung der sozialen Frage, also eine Ausrottung der gesamten als minderwertig angesehenen Unterschichten“ zusteuerte.

Im Beelitzer Männersanatorium, in das jetzt die koproduzierenden Berliner Festspiele die Inszenierung geladen haben, spuken keine toten Kinderseelen. Trotzdem springt einen auf Schritt und Tritt Vergänglichkeit an: in den Schuppen des einstigen Militärhospitals blättert der Putz von den Wänden, an den Decken blüht der Schimmelpilz. Auf dem Gang zum Festsaal lehnt indes ein Propagandaschild, das vor „unbedachter Heirat“ und „minderwertigem“ Nachwuchs warnt und rechnet: „Dieses Kind wird dem Volk 50.000 RM kosten bis zum Alter von 60 Jahren“ (Installation: Duri Bischoff). Den Zuschauersaal schmückt noch sowjetische Sportpropaganda – auch hier wurde einmal vom neuen Menschen geträumt.

Die elf Saaltöchter und Funktionäre, die sich hier zu einer medizinisch-sozialpolitischen Feierstunde zusammenfinden und dabei nacheinander ans Rednerpult treten, sind selbst nicht halb so stromlinienförmig wie der beharrlich von ihnen geforderte Mensch. Sie tragen dicke Brillen und unförmige Garderoben, pressen auf dem Weg nach vorne ihren cholesterinschweren Hüftspeck in die Nacken der Gäste oder vergessen bei den ersten Sätzen ins Mikro, die Posaune vom Mund zu nehmen. Der Holländer Jeroen Willems leiert die „Euthanasieumsätze“ der Jahre 40 bis 45 herunter und vermischt sie mit aktueller Touristikstatistik, Katja Kolm wienert sich mit schwerer Zunge durch das Wunschkonzert, das die fernen Eltern den kleinen Patienten mit guten Wünschen übermitteln. Was alles andere als zynisch wirkt, eher beunruhigend bieder. Nur wenn die Truppe zu singen anhebt, mit Schumann, Brahms und Mahler innig Tod und Abschied preist, wird aus tollpatschigen Pflegerinnen und staubigen Krankenversicherungsvorständen ein Engelschor.

Nach der Pause sitzt das Publikum jenseits des lindgrünen Vorhangs, der zuvor den Raum hinterm Rednerpult begrenzte. Bettina Stucky, die zuvor schon in der Teeküche wie ein Rohrspatz über die „Asozialen“ schimpfte, die sich „mit ihresgleichen paaren“, um dann „erblich vorbelastete“ Kinder in die Welt zu setzen, entschuldigt ihre tödliche Arbeit im „Spiegelgrund“ ausgerechnet damit, dass sie damals „unmöglich“ hätte umziehen können.

Der Abend endet mit einem langen bizarren pantomimischen Tanz zu Schostakowitschs Präludium und Fuge, die Markus Hinterhäuser am Flügel spielt. Die Schauspieler tragen viel zu kleine Kindermasken mit keck geschürzten Lippen und altmodischer Stirnlocke, eine niedliche traurige Maskerade, zu der die Sopranistin Rosemary Hardy ein letztes Kindertotenlied singt. So wird aus der Beschwörung der Nazizeit und ihrer kritischen Verschränkung mit der Biopolitik von heute auf den letzten Meter ein ziemlich genüssliches Requiem, eine große dunkle Verlockung, nicht kitschig, doch zutiefst morbide.