„Ich habe Sorge, dass wieder nichts folgt“

Der Koalition sei nichts Neues zur Armutsbekämpfung eingefallen, kritisiert Diakoniechefin Susanne Kahl-Passoth. Der Senat setze nur leere Begriffe ohne Bedeutung. Sie fordert Maßnahmen gegen die Verdrängung von Arbeitslosen

taz: Frau Kahl-Passoth, von der neuen rot-roten Koalition fordern Sie eine sozialere Politik. War Ihnen die bisherige Politik nicht sozial genug?

Susanne Kahl-Passoth: Sie war zumindest nicht ausreichend. Obwohl die Zahl der Langzeitarbeitslosen in dieser Stadt größer geworden ist, habe ich den Eindruck, dass die Betroffenen aus dem Blick geraten sind. Man scheint sich damit abgefunden zu haben, dass es sie gibt. 2.500 neue Stellen will der rot-rote Senat schaffen – ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch die Jugendarbeitslosigkeit hat sich verschärft. Die gesamte überbetriebliche Ausbildung ist so gut wie nicht mehr vorhanden.

Langzeitarbeitslosigkeit und fehlende Ausbildungsplätze – das prangern die PolitikerInnen seit Jahren an. Dennoch wächst die Armut weiter. Müsste der neue Senat nach neuen Rezepten suchen?

Von Rot-Rot angestoßene Maßnahmen wie das Quartiersmanagement haben sich bewährt und sollten ausgeweitet werden. Vor allem sollte der neue Senat aber die Mietobergrenze bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern überdenken. Der Verdrängungsprozess aus normalen Wohngebieten darf nicht noch massiver stattfinden. Wir müssen aufpassen, dass es zu keiner Bildung von Ghettos kommt, in denen die Menschen mit ihren Problemen allein gelassen werden.

Haben Sie das Gefühl, dass zur Bekämpfung der Armut im Koalitionsvertrag nach neuen Wegen gesucht wurde?

Nein, eigentlich steht da nichts Neues drin. Der Senat setzt das fort, was er sich vorher auch schon vorgenommen hat. Von der „sozialen Stadt“ war auch schon im letzten Koalitionsvertrag die Rede.

Stecken konkrete Maßnahmen dahinter?

Das ist das Problem. Es werden Begriffe gesetzt, aber nicht genau erklärt, was konkret damit gemeint ist. Ich verbinde mit diesem Begriff, dass die Menschen in dieser Stadt in Würde leben können, und zwar alle Generationen. Leider sind wir von diesem Anspruch sehr weit entfernt.

Aber Ihre Definition klingt sehr appellativ. Konkrete Maßnahmen lassen sich daraus nicht ablesen.

Natürlich können wir das Armutsproblem nicht allein der Politik überlassen. Ich finde es wichtig, dass alle Menschen ein Stück Verantwortung übernehmen, diese Stadt sozialer gestalten, indem sie sich zum Beispiel in Bürgerstiftungen einbringen, was mit Kindern machen oder oder sich um unsere älteren Mitmenschen kümmern.

Da kommt die aktuell geführte Unterschichtdebatte doch gelegen.

Ich finde es furchtbar, wenn nur über Begriffe gestritten wird, aber nicht über das Problem, das dahintersteht. Obwohl Armut gerade so heftig diskutiert wird, schaut sich dennoch keiner um, warum viele unserer Mitmenschen unter so miserablen Bedingungen leben. Wenn diese Unterschichtdebatte dazu gedient hat, dass man bereit ist, genauer auf die Menschen in dieser Stadt zu schauen, die über Jahre hinweg von Sozialhilfe leben, dann soll mir diese Debatte recht sein. Ich habe jedoch große Sorge, dass wieder nichts folgt.

Nehmen Sie denn dem rot-roten Senat ab, dass er das Problem nicht nur benennt, sondern auch tatsächlich angeht?

Zumindest Teilen des Senats nehme ich das Anliegen ab.

INTERVIEW: FELIX LEE