Soll ich meine Mutter sterben lassen?

In Deutschland ist Sterbehilfe nicht erlaubt. Was aber, wenn selbst der Chefarzt zum Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen rät? Wie es sich anfühlt, Verantwortung für den Tod eines Familienmitglieds zu übernehmen

VON IRENE MOSBRING

In meinen Tagträumen kam meine Mutter nicht vor. Im Vergleich zu ihr war ich damit im Vorteil, denn ihre Abwesenheit war mein Geheimnis. Sie dagegen lebte ihre Verneinungen offen aus. Für sie als eine von sieben Töchtern des größten Bauern im Dorf entpuppte sich alles, was weiblich ist, als Unglück. „Bist doch nur ein Ripp“, pflegte der Vater zu seinen Töchtern zu sagen. Adams Rippe war gemeint. Ohne Sohn musste die bäuerliche Dynastie zu Ende gehen, denn Mädchen zählen nicht.

Ihr Leben

Meine Mutter hätte gerne alles besser gemacht. Eine Fußballmannschaft Stammhalter wollte sie in die Welt setzen. Schließlich ging es nicht nur um die eigene Schmach. Auch ihre Schulkameraden, die im Krieg geblieben waren, mussten ersetzt werden. Mit einem Mädchen aus ihrer Klasse wetteiferte sie darum, wer als erste die Elf voll hat. In Matrosenanzüge wollten sie sie stecken und sie wie Orgelpfeifen nebeneinanderstellen. Einen, den Torwart, hatte meine Mutter schon, dann kam ein Mädchen. Ich. „Dich hab ich verteufelt“, gab meine Mutter später unumwunden zu. Dass sie immer das sagte, was sie dachte, zeichnet sie aus.

Selbst dreißig Jahre nach meiner Geburt konnte sie das Unglück des Weiblichen nicht fassen. „Man freut sich viel mehr, wenn es ein Bub ist.“ So eröffnete sie mir, dass sie Großmutter eines Jungen geworden war. „Weißt du, wem du das sagst?“ Sie verstand die Frage nicht.

Ihre Angst

Dass ihre Verneinungen meine Ablehnung zur Folge hatte, irritierte sie. Nachdem ich schon als Kind in Tagträumen schwelgte, in denen sie nicht vorkam, begriff ich als Jugendliche, dass nicht sie gehen muss, sondern ich. Hunderte Kilometer legte ich zwischen uns, dabei gibt es Auslassungen, die niemals in Entfernungen aufzuwiegen sind. Erst im Alter wurde die Mutter weicher. Sie wollte meine Nähe, wollte, dass ich ihr die Angst nehme. Die davor, allein zu verreisen. „Die Angst vor dem Tod?“, fragte ich. Sie nickte. Ich konnte sie ihr nicht nehmen. Schlimmer noch: Ich fürchtete, dass sie durch lange Krankheit am Ende versuchen würde, jenen Zugriff auf mein Leben, den ich ihr mühsam verwehrte, zu nehmen.

Es war an einem Sonntagabend im späten Februar. Noch kalt war es, aber im hellen Streifen vor Sonnenuntergang am westlichen Horizont lag schon das Versprechen auf Frühling, gar Sommer. Dass mich in diesem Moment die Erinnerung an eine Totenklage traf, passte nicht. „This sky is covering you, when you fall down“, singt Márta Sebestyén. Dass dieser Himmel mich schützt, mich bedeckt, wenn ich falle, tröstete mich. Später unter der Dusche redete ich darüber, dass ich mehr über den Tod reden müsse. Ich begann, Gründe zu nennen, warum es nicht schön ist, zu sterben: Nie mehr das Wasser über die Haut perlen spüren. Nie mehr Trauben auf der Zunge schmecken. Nie mehr die Nase in eine duftende Blume drücken. Nie mehr durch eine Fensterscheibe schauen, an der der Regen herunterrinnt … Genau in jenem Moment hatte meine Mutter den Herzinfarkt, wie ich später erfuhr. Man reanimierte sie und wartete darauf, dass sie aus dem Koma erwachte.

Ihr fauler Geruch

Zwei Tage später war ich an ihrem Krankenbett. Ihr Körper war eingefallen, das furchige Gesicht hatte sich geweitet. In alle Richtungen. Ihre Augen waren nach innen gedreht; in der Nase, in den Armen, in ihrem Mund, aus dem fauler Geruch strömte, hingen Schläuche. Ich konnte ihre blassen Hände anfassen, ihr über die verschwitzte Stirn streichen. Gehalten wurde ihr Leben vom Herzschlag, der als hastige Kurve – grün und unerbittlich – über den Bildschirm über ihr flatterte. „Mutter, hörst du mich?“, fragte mein jüngerer Bruder immer wieder. Der Arzt hatte gesagt, dass man sie ansprechen müsse.

Sie hörte nicht. Auch nicht am nächsten, am übernächsten Tag. Der Arzt bat uns aus dem Zimmer, um über seinen Zweifel zu sprechen. Die Untersuchungen zeigten, dass ihr Gehirn schwer beschädigt sei. „Was Sie jetzt sehen, ist der Status quo von morgen.“ An ihrem Bett allerdings schwieg er: „Wir wissen nicht, was sie hört.“ Er wollte am nächsten Tag mit meinem Vater und uns, den Kindern, reden. „Komm, schau mich an“, flüsterte mein Bruder der Mutter ins Ohr. „Blinzle, wenn du mich hörst.“ Ob es ein Blinzeln war?

Am nächsten Tag sind wir da. Zufällig war auch der neue Pfarrer gekommen. Ein lustiger Mensch ist er, der – im Gegensatz zu seinem höllengläubigen Vorgänger – gern jedes Fest mitmacht. Er setzte sich einfach dazu. „Wer sind Sie?“, fragte der Arzt. „Der Geistliche aus dem Dorf.“

Unsere Zustimmung

Der Chefarzt schlägt vor, keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr zu unternehmen. Keine Antibiotika bei einer Lungenentzündung, keine Reanimierung, wenn das Herz versagt. Mit Wasser, mit Luft, mit Salzlösung, mit Morphium sollte sie nur noch versorgt werden. Morphium deshalb, weil niemand sagen konnte, ob sie Schmerzen hat. Sie sollte nicht leiden. Morphium allerdings in einer Dosis, die abhängig macht. Wir müssen zustimmen. Niemand sagt ein Wort.

Der Vater schafft es, die Verantwortung auf den Arzt schieben. Wie Lehrer, Pfarrer und Generäle stehen sie zwischen ihm und Gott. Er zuckt mit den Schultern. Das Sterben seiner Frau überlässt er anderen. Der Torwart, mein älterer Bruder, hat das Schweigen des Vaters als eigenes übernommen. So bleiben der Pfarrer, mein jüngerer Bruder, meine jüngere Schwester und ich. „Ich kann ihren Zustand nur als würdelose Zukunft denken.“ Meine Geschwister nicken. Der Pfarrer sagt: „Man muss jemanden auch gehen lassen.“ Wir sagen dem Arzt, er soll uns allein lassen. Als wir allein sind, sagen wir nichts. Als der Arzt wiederkommt, stimmen wir zu. Später frage ich ihn, warum er darauf verzichtet, sie künstlich zu ernähren. Er meint, in anderen Kliniken würde das gemacht, aber seine Erfahrung zeige, dass Sterbende nicht mehr Essen wollten. Ich frage: „Wie lange dauert es?“ Er sagt, er wisse es nicht. „Also lädt man die Verantwortung auf Ihnen ab“, sage ich. „Ich teile sie mit Ihnen.“ Das Herz meiner Mutter sei stabil, sagt er. So könne es drei Wochen gehen. Sie habe einfach Pech gehabt, dass ihr Gehirn zu lange ohne Sauerstoff war. Später frage ich meinen jüngeren Bruder, ob man unsere Entscheidung verhungern nennen könne? Da schwankt er eine Sekunde.

Unsere Verantwortung

An jenem Abend, als wir Ja dazu sagten, sie sterben zu lassen, sind wir nach Hause gefahren. Erst dort beginnt das Nachdenken. „Sie hat so große Angst vor dem Verreisen, wir können sie nicht allein lassen. Ich übernehme die Nachtschichten“, sage ich. Die Klinik erlaubt es. „Wie lange kann das Sterben dauern?“, frage ich auch die Schwester. „Machen Sie so lange, wie Sie können. Wenn Sie nicht durchhalten, haben Sie es versucht.“

Die nächste Nacht bin ich mit meiner Mutter allein. Die Vorstellung, dass sie sich in einer Zwischenwelt aufhält, in der nichts mehr bewertet, nichts mehr beurteilt werden muss, lässt einfache Worte groß erscheinen. „Du.“ „Ich.“ „Kein Wir.“ „Doch ein Wir.“

Ihr Sterben

Am folgenden Abend bringe ich Musik mit. Arvo Pärt mit seinen Kompositionen aus langsamen, einzelnen Tönen. Engelsmusik. „Bist du sicher, dass sie das hören will?“, fragt mein Bruder und besteht auf „Guter Mond du gehst so stille“. Als die anderen weg sind, versuche ich es doch mit Pärt. Die Kurven auf den Monitoren ändern sich nicht. Da lege ich die Totenklage von Sebestyén ein. „Dieser Himmel wird dich schützen, wenn du niederfällst.“ Von einer Sekunde auf die nächste rast ihr Puls los. Die Maschinen schlagen Alarm. „Was ist passiert?“, fragt der Arzt. „Ich habe sie Musik hören lassen.“ „Vielleicht überrascht sie uns doch.“ „Warum sagen Sie das?“

Ihr Pulsschlag bleibt über Stunden auf Hochleistungsniveau. „Sie rennt ihrem Ziel entgegen“, meint die Krankenschwester. Am Morgen, als mein Bruder kommt, rennt sie noch immer. So vergeht die Zeit, so schieben sich die Tage, die Nächte ineinander. Von draußen scheint die Frühjahrssonne durchs Fenster oder der Mond. War es schon übermorgen oder noch vorgestern?

Irgendwann sitzt mein jüngerer Bruder mit mir im Zimmer. Die jüngste Schwester der Mutter kommt mit dem Gebetbuch unterm Arm hinzu. Sie schlägt es nicht auf. Vielmehr erzählt sie von ihrer Angst, sich Sterbende anzuschauen. Wir fragen sie nach der Mutter. Die älteste Schwester habe ihnen, den jüngsten, die Kleider genäht, die Dritte habe ihnen die Zöpfe geflochten, unsere Mutter, die Zweite, aber habe die Strafarbeiten verteilt. „Ihr kleinen Muster“, soll sie zu ihren jüngeren Schwestern oft gesagt haben. Von diesem Augenblick an wird es lustig im Zimmer. Wir lachen über das Unmögliche, betrauern das Mögliche. Mutter scheint die Party zu gefallen. Sie ist ruhig.

Am Nachmittag halte ich es nicht mehr im Sterbezimmer aus. Nur noch weg will ich. Ich renne davon, renne zum Fluss, renne den Fluss entlang. Ich will nicht mehr zurück an ihr Bett. In dieser Nacht stirbt sie. Der Torwart ist bei ihr. Er hält sie nicht.