Im Griff der Dschihadis

Unter dem wohlwollenden Blick der USA bauen die Warlords aus dem Norden ihre Macht in Afghanistan weiter aus

VON THOMAS RUTTIG

„Anfangs dachten wir, dass das Engagement der internationalen Gemeinschaft die Krise lösen würde, mit einer demokratischen Perspektive für Afghanistan. Warum sind dann aber nicht die Demokraten unterstützt worden, sondern die Fundamentalisten?“, fragt Muhammad Zarif Naseri. Die Augen des großgewachsenen Paschtunen, der über 20 Jahre Kommunisten und Taliban bekämpfte und jetzt eine kleine Partei gegründet hat, blitzen zornig, als er den Namen eines Provinzgouverneurs nennt. Der hatte seine Familie bedroht, als er sich 2001 zur Wahl für die Loja Dschirga stellte. „Er sitzt heute im Parlament, obwohl die Taliban in den 90er-Jahren wegen Kommandeuren wie ihm und wegen ihres Plünderns, Raubens und Mordens erst an die Macht kamen.“ Ein Freund Naseris erzählt, wie entsetzt er war, als er im März im Fernsehen sah, wie beim Galadinner zum Kabul-Besuch Bushs fast die gesamte Phalanx der Mudschaheddin-Führer neben diesem und Karsai am Präsidententisch saß. Dabei waren sie es doch gewesen, die damals ganze Teile von Kabul zerstört hatten, tausende Zivilisten getötet und eine halbe Million Menschen vertrieben haben. Tatsächlich: Die Dschihadi-Fürsten werden von Präsident Hamid Karsai bei wichtigen Entscheidungen oft konsultiert, vor allem der Interimspräsident aus der 90er-Jahren, Burhanuddin Rabbani und Abdul Rasul Sajaf, ein von Saudi-Arabien finanzierter Wahhabit. „Sajaf ist faktisch Karsais Großwesir“, meint Naseris Freund, der lieber anonym beleiben will, bitter. „Wären Kriegsverbrecher wie er auf dem Balkan geboren, wären sie jetzt auf der Flucht oder säßen in einer Zelle in Den Haag.“

Dabei hatte alles nach dem Sturz der Taliban vor fünf Jahren so hoffnungsvoll angefangen. Am 13. November 2001 hatten sie sich über Nacht fast kampflos aus Kabul zurückgezogen und kurz darauf auch aus ihrer Hochburg Kandahar. Vor den UN-Büros standen Tausende Lehrer, Ingenieure und Beamte, die zuvor von den Taliban entlassen worden waren. Nun wollten sie sich für den Neuanfang registrieren lassen. Hoffnungsvoll sah man nach Deutschland, wo auf dem Petersberg bei Bonn ein politischer Fahrplan für die Nach-Taliban-Zeit aufgestellt und mit Hamid Karsai ein Interimspräsident bestimmt wurde, der sich nicht in den Fraktionskämpfen der Kriegsfürsten diskreditiert hatte. Auf den Basaren hörte man nun immer wieder den Satz: „Jetzt werden wir endlich wieder ein normales Land.“

Heute hat Afghanistan einen gewählten Präsidenten und ein gewähltes Parlament. Doch Karsais Regierung ist in einer tiefen Vertrauenskrise. Auch der Ruf der einst so hoffnungsvoll begrüßten ausländischen Soldaten und Entwicklungshelfer hat gelitten. Die Taliban machen ein Drittel des Landes für sie zur No-go-Zone. Ursache dafür ist die tiefe Enttäuschung darüber, dass sich das Leben der meisten Afghanen seit 2001 nicht wirklich verbessert hat. Mangelnde Kontrolle ließ Zweifel über die sinnvolle Verwendung der Hilfen aufkommen. 40 Prozent der Bevölkerung sind nach offiziellen Statistiken arbeitslos. Zugang zum Stromnetz gibt es nur für 6 Prozent der Menschen. Der Fachminister rief die Bevölkerung gerade auf, sich für den Winter mit Kerzen einzudecken. Die Polizei ist in vielen Provinzen eine Verbrecherbande in Uniform. Das weitgehend unreformierte Justizwesen ist, wo überhaupt existent, korrupt. Dagegen gelten die wieder auflebenden Taliban-Gerichte mit ihren drakonischen Strafen unter den Afghanen als „sauber“.

Inzwischen hat sich das lukrativste aller Geschäfte – der Handel mit Heroin – zum endemischen Problem ausgewachsen. Mit 6.100 Tonnen Rohopium produzierte Afghanistan in diesem Jahr einen Rekord und lieferte 92 Prozent der weltweiten illegalen Rohopiumproduktion – ungeachtet aller Drogenvernichtungsprogramme der Entwicklungshelfer. Drogenhändler haben alle Verwaltungsebenen unterwandert, sitzen in Regierungsämtern und im Parlament.

Der so genannte Bonner Friedensprozess hat dem Land zwar Regierungsinstitutionen gegeben, aber nicht die in über 25 Jahren entstandenen Gewaltstrukturen beseitigt. Die Grundlage dafür wurde schon an dem Tag gelegt, als die Taliban abrückten. Entgegen internationaler Absprachen, Kabul für eine erst zu bildende Übergangsregierung zu entmilitarisieren, gewährte die US-Regierung den ehemaligen Mudschaheddin der Nordallianz grünes Licht für den Einzug in die afghanische Hauptstadt. Militärischen Sinn machte das nicht mehr. Doch es verschaffte der Nordallianz einen ungeheuren politischen Vorteil: Ihre Anhänger übernahmen den Staatsapparat und haben diese Macht bis heute kaum mit anderen politischen Kräften geteilt. Heute gehen die Vereinten Nationen von etwa 120.000 Angehörigen so genannter illegaler bewaffneter Gruppen aus – zufällig genau dieselbe Zahl an Kämpfern, die 2001 nach Mudschaheddin-Angaben unter Waffen stand und entweder zeitweilig Sold oder Demobilisierungs-Abfindungen erhielt – aus internationalen Hilfsfonds. „Das Bonner Abkommen wurde schon verletzt, als die Tinte darauf noch nicht trocken war“, resümiert ein früherer Minister Karsais.

Das entscheidende Datum, an dem der afghanische Friedensprozess vollends kippte, ist der 10. Juni 2002. Im Kabuler Polytechnikum sollte an diesem Tag die Loja Dschirga eröffnet werden, die traditionelle nationale Ratsversammlung. Noch hatten die Afghanen Hoffnung, endlich das politische Schicksal des Landes wieder in die eigenen Hände nehmen zu können. Die dort versammelten 1.600 Delegierten repräsentierten das ganze Spektrum der afghanischen Gesellschaft: Professoren und analphabetische Nomadenführer, selbstbewusste Fernsehansagerinnen und verschleierte junge Frauen, islamistische Ideologen und hoffnungsvolle Demokraten. Einig war sich die Mehrheit in einem: Die Warlords sollten nicht wieder ans Ruder kommen. Als einer von ihnen, der frühere Präsident Burhanuddin Rabbani, auftauchte, um seine Kandidatur zu erklären, schlug ihm so viel Ablehnung entgegen, dass er fluchtartig das Weite suchte.

Überraschend blieb das große Loja-Dschirga-Zelt an diesem Nachmittag aber verschlossen. Die Eröffnung sei um einen Tag verlegt, hieß es, organisatorischer Probleme wegen. Tatsächlich aber war Zalmay Khalilzad, der damalige Sondergesandte Präsident Bushs für Afghanistan – derzeit ist er Botschafter in Bagdad – hinter den Kulissen fieberhaft bemüht, bei der Wiederwahl Karsais dessen Gegenkandidaten zu verhindern. Dies war der frühere König Muhammad Sahir Schah. Schon 1973 gestürzt, lebte er seither im römischen Exil, galt aber als einzige wirkliche Integrationsfigur. Vor allem die Delegierten aus dem paschtunischen Süden wollten ihn an der Staatsspitze sehen. Aber Khalilzad und die Mudschaheddin waren dagegen. Der Bush-Regierung war der greise Exmonarch suspekt, weil er mehrmals gewagt hatte, ihre Politik zu kritisieren: die Bombardements von Zivilisten in Afghanistan und – schlimmer noch – ihr Vorgehen am Golf. Die Mudschaheddin hatten schon zuvor mit Putschdrohungen dafür gesorgt, dass Sahir Schah seine Heimkehr mehrmals verschieben musste. In einem Paradebeispiel imperialer Machtpolitik erklärte Khalilzad – und nicht der König selbst – öffentlich dessen Verzicht auf alle öffentlichen Ämter.

Die bitteren Worte eines afghanischen Freundes klingen mir noch immer im Ohr: „Der Kommunismus hat versagt und der Islam der Mudschaheddin und Taliban. Jetzt auch noch die Demokratie?“

Der Autor arbeitete von 2000 bis 2003 für die UNO in Afghanistan. Zur Zeit ist er Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politk (SWP) in Berlin