All the lonely people

DAS SCHLAGLOCH von RENÉE ZUCKER

Der Lohn für all die Zeit auf Meditationsmatten und in Unterwasserkonzerten: Einsamkeit & Demenz

Was uns am meisten zum Vorwurf gemacht wird, ist, daß wir Alten immer wieder junge Wünsche haben.Michel de Montaigne

Mein Freund Jonathan kann sich glücklich schätzen: Sein Einkommen scheint bis zum Ende seiner Tage gesichert. Jonathan ist Psychoanalytiker und er hat so viel zu tun wie nie zuvor.

„Die große Volkskrankheit der Zukunft wird die Einsamkeit sein“, sagt er, „das zeichnet sich jetzt schon ab“, und ich bin nicht ganz sicher, ob ihm diese Voraussage Sorgen macht oder ob sie ihn eher frohlocken lässt. Mich jedenfalls lässt sie insofern kalt, weil ja als Alternative nur die Demenz zur Verfügung steht, also die Wahl zwischen Pest und Cholera bleibt.

Und das ausgerechnet uns! Uns, die wir auf Kleinfamilie pfiffen und in städtischen Wohngemeinschaften oder Landkommunen lebten, bei denen jeder willkommen war, der einigermaßen gerade stehen konnte und sich an seinen Namen erinnerte.

Uns, die wir zu öden Kinderladensitzungen gingen, einmal in der Woche gegen allen guten Geschmack den Schülerladen gesund bekochten und kollektiv nachlässig putzten.

Uns, die wir das Stattauto erfanden, von fahrenden Gemeinschaften träumten und sogar die internationale Solidarität hochhielten. Ausgerechnet wir sollen jetzt vereinsamen?

Dabei sind wir rüstig wie keine Generation vor uns. Laufen über 40 Kilometer Marathon, kennen nahezu jedes wichtige Museum vom Durchwandern wichtiger Großstädte, belegen bald an der Senioren-Sommeruniversität alle Islamwissenschaften, die es gibt, oder lernen fleißig Chinesisch. Das Auto benutzen wir höchstens für Wege über 20 Kilometer, wenigstens zweimal wöchentlich essen wir Fisch, kräftigen unseren Rücken mit Kieser-Training, machen bei Yoga ab fünfzig mit und achten wie ein Luchs auf den Blutdruck und die Cholesterinwerte.

Bei so viel organisierter Lebensfreude kann man doch gar nicht verblöden.

„Die Verblödung passiert ja genau deswegen“, sagt Jonathan. „Die Menschen sind zu fit und damit zu jung für den Ruhestand geworden. Sie werden zu früh in Rente geschickt und vermissen dann die Arbeit.“ – Halt mal, ist Jonathan etwa evangelisch? Kann denn ein Protestant überhaupt Psychoanalytiker sein? – „Die ganze Fitness, vor allem die mentale, geht flöten, wenn keine äußere Anspannung mehr da ist“, sagt Jonathan. „Der Mensch braucht Chaos und Stress, damit er in Schuss bleibt.“ Nun sieh mal einer an. Das hab’ ich aber noch ganz anders gelernt.

Jahrzehntelang war ich der festen Überzeugung, all dieses Gehetze, Gemobbe und Adrenalin-Ausgeschütte sei schlecht für die Gesundheit und würde einen zu einem sehr unbeliebten Zeitgenossen machen. Und nun müssen wir erfahren, dass genau das sozial einbindet und geistig fit hält.

All diese leeren Gesichter über bleifarbenen Anzügen in Flieger, Bus und Bahn, die wir immer mit jener Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachteten, die sollen es mal besser haben als wir? Die sechzehn Stunden Entfremdetes tun und sich in ständiger Angst vor Konkurrenten und gnadenlosen Chefs panzern, während wir doch bewusstes Leben im Hier und Jetzt praktizierten und lernten, auf unsere Bedürfnisse zu hören. Statt wie sie besinnungslos hinter Mammon, Ruhm und Action hinterher zu sein, nahmen wir unsere Gefühle wahr und folgten ganz unseren Bedürfnissen.

Begriffen unter Schmerzen, dass das, was wir an unserem Gegenüber nicht leiden konnten (und wofür wir ihn nur zu gerne gemobbt hätten), genau die hässlichen Eigenschaften waren, die wir an uns selbst nicht akzeptierten.

Leben ist echt kompliziert. So kompliziert, dass sich währenddessen eigentlich jede Demenz von selbst verbieten müsste, weil man ständig geistig auf Trab sein muss. Dieses dauernde Umdenken und Neuhandeln. Gerade noch stolz, dass man was verstanden hat, schon gilt es nicht mehr. Nicht genug damit, dass man geduldig mit Hormonabfall gepiesackten Freundinnen oder von Impotenz traumatisierten Freunden sein und dabei noch die eigene Altersvorsorge im Blick haben soll, nun muss man sich trotz gesunder Mittelmeerküchendiät vor Salmonellen im Tiramisu hüten und einsehen, dass hoch dosiertes Vitamin C doch nicht gegen Krebs hilft.

Schleichend und doch plötzlich stimmt nichts mehr von dem, was wir als alleinseligmachende Lebensweise propagiert haben. Denn dachten wir nicht seit den Zeiten der Konsumverweigerung, all dieses Gehetze, Gemobbe und Adrenalin-Ausgeschütte sei schlecht für die Gesundheit und würde einen zu einem sehr unbeliebten Zeitgenossen machen?

Und der Lohn für all die Stunden auf Analysesofas, Meditationsmatten und in Unterwasserkonzerten seien: Einsamkeit und Demenz …

Hier kann doch was nicht stimmen.

Hatten unsere Eltern wenigstens noch einen ordentlich verlorenen Krieg inklusive Massenmord als Lebenslüge vorzuweisen, wo man sagen könnte, ja, Demenz und Einsamkeit geschehen euch ganz recht, können wir nur ein bisschen Steineschmeißen und Gestalttherapie auf- und abarbeiten.

Worin sollte hier die Schuld bestehen?

In Harmlosigkeit und Arroganz?

In Egoismus und Ignoranz?

Unsere Eltern hatten wenigstens noch einen verlorenen Krieg als Lebenslüge vorzuweisen

Zwei Zukunftsszenarios sind derzeit im Angebot:

Immer öfter werden im Fernsehen die beliebten Hartz-IV-Millieu-Familen gezeigt, in denen Kleinkinder mit zwei vorhergehenden arbeitslosen Generationen sechs Stunden gemeinsam auf die Glotze starren. Bald werden sie die Mehrheit im Lande sein, wenn nur noch 40 Prozent in Deutschland arbeiten können. 40 Prozent, die den Laden am Laufen halten, und der Rest ist ausgeklinkt und abgeschrieben.

Aber wenn wir nicht wollen, dass die Leute zu viel fernsehen, dann müssen wir uns was für sie ausdenken. Man könnte vielleicht zur Wiedererlangung von gesellschaftlicher Integration und individueller Bestätigung dem ehrenamtlichen Tun ein besseres Image verpassen. Hier könnten sich quotenschwache Privatsender glatt ein paar Avantgarde-Meriten verdienen. Wer kocht die leckerste Suppe für Obdachlose und wer hat klasse Ideen fürs Umdekorieren von Altenheimen?

Der zweite Zukunftsausblick geht direkt aufs Klimakatastrophenpanorama. Wenn die Deutschen nicht vorher ausgestorben sind, werden sie einen komplett anderen Alltag haben. Vielleicht liegt Berlin dann am Meer. Oder drunter. Vielleicht machen wir aus Autobahnen Wanderwege und kriegen Wohlstandsdiabetes und Fernsehdoofheit weg – denn wer will schon bei brütender Hitze auch noch Fernsehen?

Und vielleicht überlegt es sich die Geschichte ja auch noch mal und die übernächste Generation kriegt plötzlich ganz viele Kinder, weil sie gesehen haben, wie einsam ihre Vorfahren waren.

Wir dürfen nicht verzweifeln, das steht mal fest. Wir müssen weiter alles für möglich halten. Allerdings: von nix kommt nix. Oder wie schon Rilke am Ende seines Gedichts „Archäischer Torso Apollos“ schreibt: „… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern“.