Please, Mister President

Ein kleiner Junge bittet um Gnade für seine Mutter – und für die Eltern von rund 4,9 Millionen anderen Kindern in den USA

Saúl: „Wir sind US-Bürger, aber die Regierung nimmt uns unsere Mütter und Väter weg“

VON BERND PICKERT

Saúl Arellano ist sieben. Zu jung, um im Zentrum eines politisch-juristischen Konfliktes zu stehen. Saúl hat sich das nicht ausgesucht – aber so ist es nun mal. Denn Saúl ist US-Amerikaner, seine Mutter Mexikanerin und soll aus den USA abgeschoben werden. Nach US-Recht kann sich Saúl nur aussuchen, ob er lieber sein Zuhause verlieren möchte oder seine Mutter. Doch weder sie noch er wollen diese Auswahl akzeptieren.

Deshalb stehen die Arellanos im Zentrum eines Konfliktes, der seit drei Monaten immer mehr Medienöffentlichkeit auf sich zieht. Am 15. August hatte Elvira Arellano, 31, abgeschoben werden sollen. Sie war 1997 aus Mexiko illegal über die Grenze gekommen, geschnappt und sofort zurückgeschickt worden. Nur Tage später versuchte sie es noch einmal, kam durch und zog nach Oregon. Dort lebte sie drei Jahre lang von verschiedenen Jobs. Saúl wurde geboren. Einen Vater hatte er nie. Aber weil er in den USA zur Welt kam, hat er eine US-Staatsbürgerschaft.

Elvira zog mit Saúl nach Chicago, fand eine Anstellung als Putzfrau auf dem Flughafen O’Hare International. Als Identitätsausweis zeigte sie eine gefälschte Sozialversicherungskarte vor, wie es hunderttausende von illegalen Migranten in den USA tun. Sie flog auf, wurde 2002 verhaftet und per Gerichtsverfahren zur Ausreise aufgefordert. Stattdessen suchte Elvira Arellano Zuflucht in der Adalberto United Methodist Church in Chicago.

Pfarrer Walter Coleman gewährte ihr ohne Zögern Kirchenasyl. In einem Radiointerview begründete er: „Elvira Arellano ist seit drei Jahren Mitglied unserer Kirche. Sie hätte einfach untertauchen können wie 12 Millionen andere. Sie hätte auch die Deportation akzeptieren können. Aber sie hat immer gesagt, dass sie gegen das kämpfen würde, was sie als ungerechtes Gesetz empfindet, damit ihr Sohn weiß, dass er ein Kind Gottes ist und nicht ein Stück Dreck, dass man einfach wegwerfen kann.“

Während Elvira Arellano auf das Gerichtsurteil wartet, engagiert sie sich politisch, knüpft Kontakte, stellt ihr persönliches Schicksal in einen größeren Rahmen. Als sie zur Abschiebung verurteilt wird, ist sie bereits Vorsitzende der Organisation „Latino Families United“. Die Gruppe will auf das Schicksal all jener aufmerksam machen, denen es genauso geht wie Elvira und Saúl: Rund 4,9 Millionen Kinder leben Schätzungen zufolge in den USA unter der Bedrohung, dass ihre papierlosen Eltern abgeschoben werden, während sie selbst amerikanische Staatsbürger sind.

Seit drei Monaten leben die Mexikanerin Arellano und ihr US-amerikanischer Sohn nun schon in Colemans Kirche. Nach ersten Drohungen haben die Migrationsbehörden inzwischen erkennen lassen, auf eine gewaltsame Verhaftung in der Kirche zu verzichten. Das gibt Elvira und Saúl ein bisschen Sicherheit. Aber es löst ihr Problem nicht.

Schon hat der Stadtrat einer Nachbargemeinde einen Antrag eingebracht, die gesamte Gemeinde zum Zufluchtsort für von Abschiebung bedrohte Illegale zu machen. Schon haben weitere Kirchen anderen Menschen Asyl angeboten. Doch neben all der Solidarität hat Elvira auch Kritik zu hören bekommen: Manche finden, sie benutze ihr Kind für ihre politischen Anliegen. Eine Gruppe „Mütter gegen illegale Fremde“ wollte Elvira sogar wegen Kindesmissbrauch anzeigen und forderte die Polizei auf, Saúl in Schutzhaft zu nehmen. Die rechten „Minutemen“, die gegen Illegale an den Grenzen patrouillieren, befürchten einen Präzedenzfall, sollte Arellano bleiben dürfen, und fordern ihre Abschiebung nach Mexiko.

Elvira und ihr Sohn lassen sich davon ängstigen, aber nicht einschüchtern. Mehrmals ist der Siebenjährige inzwischen nach Washington gereist „Meine Mutter kann doch nicht reisen“, erklärt Saúl. Er hat am Weißen Haus demonstriert, einen Brief an den Präsidenten geschrieben und diesen um ein Treffen gebeten: „Ich möchte Präsident George W. Bush sagen, warum ich glaube, dass meiner Mutter erlaubt werden sollte, mit mir in meinem Land zu bleiben. Ich möchte ihm auch sagen, dass da noch mehr als 3 Millionen andere Kinder wie ich sind. Wir sind US-Bürger, aber die Regierung nimmt uns unsere Mütter und Väter weg.“

Präsident Bush hat Saúl nie getroffen. Deshalb reiste der Siebenjährige nun nach Mexiko. Am Dienstag trat er dort im Parlament auf und trug seine Bitte vor: Mexikos Präsident Vicente Fox, so verlangte Saúl, soll bei Präsident Bush dafür sorgen, dass seine Mutter nicht abgeschoben wird. Saúl war aufgeregt, als er in den Kongress kam. Er versteckte sich unter einem Tisch, als Presse und immer mehr Menschen kamen und seine Mutter nicht dabei war. Nachdem er gesprochen hatte, verabschiedete das mexikanische Parlament eine Resolution mit der Aufforderung an die USA, die Abschiebung Elvira Arellanos zu stoppen. Einstimmig.

Auf seinen Reisen begleitet wurde Saúl von Emma Lozano. Sie ist die Vorsitzende des „Centro Sin Fronteras“ (Zentrum ohne Grenzen), das sich für die Rechte der Papierlosen in den USA einsetzt. Sie sagt über Elvira: „Ihre Abschiebung ist für mich Rache für ihre Aktivitäten. Sie stand an der Spitze der Bewegung. Sie ist die Rosa Parks der Papierlosen.“ Rosa Parks war jene Schwarze, die sich 1955 weigerte, die den Schwarzen vorbehaltenen hinteren Plätze im Bus zu benutzen. Sie schrieb Geschichte.