Eine Frau ohne Tabus, unberechenbar

In Frankreich ist der Präsidentschaftswahlkampf eröffnet. Nicolas Sarkozy hat seine Wunschgegnerin bekommen: Ségolène Royal. Doch sie wird für ihn eine ganz unbequeme Kontrahentin werden

AUS PARIS RUDOLF BALMER

„Es ist etwas Magisches passiert, es weht ein frischer Wind“, beschreibt ein lokaler Parteisekretär das interne Stimmungsbild nach dem triumphalen Sieg von Ségolène Royal bei den Stichwahlen der französischen Sozialisten. Für viele Mitglieder ist die Nominierung von Ségolène Royal zur Präsidentschaftskandidatin eine Art Aufbruch zu neuen Horizonten. „Frankreichs Linke hat eine neue Führungsfigur. Was genau sich damit ändern wird, ist noch schwer abzuschätzen, aber es ist sicher, dass dies weitreichende Folgen haben wird“, prophezeit auch Claude Askolovitch vom Magazin Nouvel Observateur. Es steht ein Umbruch bevor wie in Großbritannien mit Tony Blairs New Labour oder wie mit José Luís Rodríguez Zapatero in Spanien, schreiben viele Beobachter. Mit Ségolène Royal ende die Epoche, die mit der Wiedervereinigung der Partei durch François Mitterrand Mitte der 70er-Jahre begonnen hatte, erklären in den Fernsehdebatten die Politologen.

Süße Revanche

Seit Monaten wiederholen die Meinungsforscher, Ségolène Royal sei die Einzige, die 2007 in einem Wahlduell Innenminister Nicolas Sarkozy, den wahrscheinlichen Kandidaten der Rechten, schlagen könne. In einer Mehrheit ihrer Wahlsimulationen sahen die Institute die Sozialistin sogar als knappe Siegerin. Auf diese Dynamik eines angekündigten Erfolgs setzten nun die Sozialisten bei ihrem Wahlentscheid. Sie haben die schmähliche Niederlage von 2002 nicht vergessen, als ihr Kandidat Lionel Jospin vom Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen aus der Stichwahl gegen Jacques Chirac verdrängt wurde. Süß soll jetzt die Revanche werden mit Ségolène Royal. Bis gestern lautete für die französischen Sozialisten die Frage, wer am ehesten in der Lage sei, dieses Mal gegen die Rechte und die extreme Rechte zu gewinnen. Jetzt ist es an der regierenden Rechten, zu überlegen, wer mit den größten Chancen gegen Ségolène Royal antreten soll.

Ihr mutmaßlicher Gegner Sarkozy ist als Innenminister noch an Rücksichten auf die Regierungspolitik gebunden. Seine offizielle Nominierung ist erst im Januar 2007 geplant. Und noch steht nicht fest, ob er wirklich der Einzige und der am besten Platzierte in seiner politischen Familie ist, der kandidieren will. Die konservative Verteidigungsministerin Michele Alliot-Marie hält sich noch bedeckt, genauso wie Amtsinhaber Jacques Chirac seine Karten noch nicht aufgedeckt hat. Sicher ist, dass Sarkozy, der Royal als „Wunschgegnerin“ bezeichnet hat, mit ihr eine unberechenbare Gegnerin bekommen wird – sogar bestimmt die unbequemste. Der Chef der rechten Volkspartei UMP hatte sich auf die traditionelle französische Linkspolitik eingeschossen. Und nun kommt Royal und „klaut“ ihm unverschämt fast exklusive Inhalte: Sie spricht von Sicherheit, Ordnung und der Nation. Und sie spielt diese Themen gegen die Regierung aus und fordert im Namen der sozialen Gleichheit neue Schwerpunkte der nationalen Solidarität.

Verunsichert sind deswegen aber auch Royals potenzielle Partner, die weiter links stehen. Ihnen kommen diese Anleihen jenseits der politischen Barrikaden mehr als verdächtig vor. Eine „Katerstimmung“ nach der sozialistischen Siegesfeier für Ségolène Royal sagt der Trotzkist Olivier Besancenot voraus: Diese wolle die französische Linke „in die Fußstapfen von Tony Blair führen“. Von der „Ségomania“ völlig unberührt meinte der Kandidat der Ligue Communiste Révolutionnaire: „Die Sozialistische Partei will in dieser Kampagne dem Liberalismus hinterherrennen. Und was das bringt, das kennen wir schon. Mit Linksregierungen während 15 Jahren und Rechtsregierungen während 10 hatten wir 25 Jahre mit mehr oder weniger derselben Politik.“

Die Stunde der Frau

Oft unterscheidet Royal sich von Sarkozy weniger in den Vorschlägen als mit ihrer Methode und ihrem Vokabular. Verblüffend ähnlich sind sich die beiden sogar in der Art, bisherige Tabus zu brechen, sehr direkt auf die Bürger zuzugehen, um zu wissen, wo sie der Schuh drückt. Beiden wird die Volksnähe als „Populismus“ angekreidet.

In Frankreich schlug gestern die Stunde der Frau. Royal entspricht ganz offensichtlich einer aktuellen Nachfrage nach mehr Weiblichkeit in der Politik. Diesen „kleinen Unterschied“ spielte die vierfache Mutter sehr gekonnt aus. Fabius und Strauss-Kahn waren nicht die Ersten, die dies zu ihrem Leidwesen erfahren mussten. Eine andere Frage ist es, ob Frankreich wirklich bereit ist, eine Frau an die Staatsspitze zu wählen und ihr damit auch das Oberkommando über die Streitkräfte anzuvertrauen. Oft sind die alten Reflexe zählebig.