Die Reifeprüfung

Vom „Wowi“ zum „Rowdy“ in acht Wochen: Seit dem Wahlsieg hat Klaus Wowereit durch wüste Attacken und geringen Sparwillen viel politisches Kapital verspielt. Auf dem heutigen SPD-Parteitag hat er die Chance, sich als Sanierer mit kühlem Kopf in Szene zu setzen

VON MATTHIAS LOHRE

Vielleicht tun sie alle Klaus Wowereit schrecklich Unrecht. All jene Politiker, Journalisten und anderen Beobachter, die dem Regierenden Bürgermeister derzeit einen „Rowdy-Stil“ vorwerfen und zugleich kritisieren, der Neuauflage von Rot-Rot fehle jegliche Vision. Vielleicht hat Wowereit, dem vor wenigen Monaten manche sogar die Kanzlerkandidatur zutrauten, doch noch eine Überraschung für sie parat. Er könnte sie brauchen, heute auf dem SPD-Landesparteitag.

Genau zwei Monate nach Wowereits Wahlsieg ist wenig vom Siegerimage geblieben. Zuerst verlor das Land die Haushaltsklage vor dem Bundesverfasssungsgericht, in die Landespolitiker jeder Couleur große Hoffnungen gesetzt hatten. Mehr noch: Sie wurde regelrecht zerlegt. Vielleicht, urteilten die Karlsruher Richter süffisant in Anspielung auf einen Spruch von Wowereit, sei Berlin so sexy, „weil es gar nicht so arm ist“. Was der Regierende dieser Kränkung entgegensetzte, war typisch berlinerisch: eine Mischung aus Trotz, Drohungen und Schmähungen in Richtung Verfassungsgericht und Bundesregierung. Das Urteil verglich er allen Ernstes mit der Berlin-Blockade durch die Sowjets und das lange Schweigen Adenauers nach dem Mauerbau. Wie viele Berliner schwankt Wowereit zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühl. Als Haushaltspolitiker in den 90er-Jahren konnte er sich Rempeleien gegen weniger zahlenfeste Koalitionspolitiker erlauben: „Wenn dieser Stil einreißt“, polterte Wowereit, „dann sind alle Lippenbekenntnisse zum Sparwillen umsonst.“ Als Regierungschef gönnt er sich öffentliche Demütigungen der Senatoren. Im Parlament richtete er vor wenigen Monaten seinen meinungsfreudigen Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) öffentlich hin – mit den Worten „Man freut sich manchmal, wenn er nichts sagt.“ Dieser rabiate Stil kam lange Zeit an. Persönlicher Charme und politische Erfolge ließen unangenehme Charakterzüge in warmem Licht erscheinen. Doch in der jetzigen Defensive hat das trotzige Minderwertigkeitsgefühl die Oberhand gewonnen. Die in der Berliner Provinz bewährte Mischung aus Poltern und Kungeln gerät dabei an ihre Grenzen. Und die verlaufen zwischen Rotem Rathaus und Bundeskanzleramt.

Zu Wochenbeginn trat Wowereit zum Empfang bei Angela Merkel an. Durch die barsch vorgetragene Forderung, der Bund solle die verabredete gemeinsame Sanierung der baufälligen Staatsoper gefälligst allein bezahlen, verurteilte Wowereit das Treffen zum Scheitern. Auf Bundesebene verfangen die Rempeleien nicht mehr. Die Kanzlerin hat Wowereit spüren lassen, dass sie die Mächtigere ist. Das Gespräch über die Zukunft des Flughafens Tempelhof verlief frostig – und endete ergebnislos.

So hat man Wowereit lange nicht gesehen: laut, herrisch und ungezügelt. Der nächste Akt begann mit Schüssen auf den Generaldirektor der Opernstiftung, Michael Schindhelm. Noch bevor Wowereit sich offiziell selbst zum politisch Verantwortlichen für die Hauptstadtkultur gekrönt hat, sorgte er für Schindhelms entnervten Rückzug. Für die Demission des Chefs der drei Opern mag es fachliche Gründe geben. Doch öffentlich benannt hat sie der Regierungschef nicht. Wowereits „Bossing“ irritiert mittlerweile selbst wohlmeinende Beobachter. Die Frankfurter Rundschau konstatierte mit Blick auf den einstigen Bildungsstadtrat: „Man wird den Verdacht nicht los, dass dessen demonstrative Party-Grandezza nachhaltig angetrieben wird vom Tempelhofer Vorstadtgefühl.“

Die Frage, die hinter derlei Äußerungen steht, lautet: Offenbart Wowereit derzeit sein wahres Gesicht oder nur ein Formtief? Er selbst hat es in der Hand, sie zu seinen Gunsten zu beantworten. Heute stimmen die Delegierten des SPD-Parteitags über den rot-roten Koalitionsvertrag ab. Auf 88 Seiten haben sich SPD und Linkspartei auf wenig Neues geeinigt. Der von der PDS durchgedrückte Einstieg in die sogenannte Gemeinschaftsschule zählt dazu. Vom 2002 stolz verkündeten Abbau des Schuldenbergs ist seit dem Karlsruher Urteil wenig geblieben. Offiziell gibt es keine Pläne, bis 2020 das Anwachsen des Landesschulden auch nur zu stoppen. Doch so schwer es ist, eine Lösung für dieses Problem zu finden, so unumgänglich ist es zugleich.

Hinzu kommt ein akuteres Problem: Wowereit muss bis zu seiner Wiederwahl am kommenden Donnerstag zwei Senatoren von Format vorweisen. Vor allem das neu gefasste Superressort Bildung, Wissenschaft und Jugend mit allein 37.000 Mitarbeitern erfordert einen Amtsinhaber mit Ausstrahlung. Entscheidet sich der Regierende für eine solche Persönlichkeit, könnte das seine Rückbesinnung auf politische Tugenden einläuten: Das Alphatier Wowereit akzeptiert ein anderes Alphatier in seiner Mannschaft zum Nutzen seiner Regierung.

Dass Wowereits Trotzphase bald vorüber sein könnte, darauf deuten zwei weitere Indizien hin. Der Senat will die landeseigene Gewerbesiedlungsgesellschaft (GSG) entgegen zäher Proteste aus den Reihen der SPD verkaufen. Der Deal könnte zwar in letzter Minute an rechtlichen Streitigkeiten mit Bund und EU scheitern, nicht aber an mangelnder Bereitschaft Wowereits zur Haushaltssanierung.

Ähnliches gilt für den überraschend starken Stellenabbau im öffentlichen Dienst, den Wowereit in dieser Woche angekündigt hat. Von derzeit 113.000 soll die Anzahl der Beschäftigten nicht auf die geplanten 105.000, sondern auf 90.000 sinken. Eine Kampfansage an den Koalitionspartner – und zugleich ein deutliches Signal von Wowereits Kampfbereitschaft.

Vor all dem steht der heutige SPD-Parteitag. Die Genossen muss der Regierungschef vom Sinn weiterer Einschnitte überzeugen. Sein Wiederaufstieg zum Medienliebling „Wowi“ könnte heute beginnen. Wowereits Trotzphase war laut und sie dauerte lang. Sehr lang. Beendet er sie heute nicht, ist sie zu lang.