Parlament verstimmt Wowereit

Erst im zweiten Durchgang wählen SPD- und PDS-Fraktion Klaus Wowereit zum Regierungschef. Nach seiner Drohung, keinen dritten Wahlgang mitzumachen, kommt eine knappe Mehrheit zustande

VON FELIX LEE
UND MATTHIAS LOHRE

Abgeordnetenhauspräsident Walter Momper wollte die unangenehme Wahrheit zunächst nicht glauben. Nach dem ersten Wahlgang fragte er gestern Klaus Wowereit, ob er die Wahl annehme. Der CDU-Abgeordnete Uwe Goetze musste eilig ans Präsidentenpult treten, um den Hausherrn vom Unerwarteten zu überzeugen: Der siegesgewisse Kandidat fürs Amt des Regierenden Bürgermeisters war durchgefallen.

Erst nach einer Stunde Beratung rauften sich SPD und Linkspartei zusammen, Wowereit setzte den Abgeordneten die Pistole auf die Brust. Zwischen den Wahlgängen, sagte der Regierungschef später, habe er beiden Koalitionsfraktionen angekündigt, dass er ein drittes Mal nicht antreten werde. Im zweiten Urnengang stimmten dann 75 Abgeordnete für Wowereit, 74 gegen ihn. Doch da war der politische Schaden schon groß genug: Der Start der bundesweit einzigen rot-roten Koalition auf Landesebene in ihre zweite Legislatur ist verpatzt.

Momper verrechnet sich

Wowereits Abstimmungsniederlage war für Beobachter überraschend gekommen. Eine Jastimme fehlte dem 53-Jährigen im ersten Wahlgang zur Wiederwahl. Doch nur 74 Abgeordnete hatten für den Regierenden Bürgermeister gestimmt, 73 hatten mit Nein votiert, 2 Parlamentarier sich enthalten. Die Koalitionsfraktionen SPD und Linkspartei verfügen zusammen über 76 Stimmen, die Oppositionsparteien über 73. Selbst Momper, obwohl einst Regierungschef, schien mit den Feinheiten der Landesverfassung überfordert: Nur eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen sichert dem Kandidaten die Wahl. Doch die hatte die rot-rote Koalition verfehlt.

Auf den Parlamentsfluren hatten Oppositionsvertreter von CDU, Grünen und FDP nach Wowereits verpatztem Legislaturauftakt ihren großen Auftritt. Während sich SPD- und Linkspartei-Fraktion mit versteinerten Gesichtern eine Stunde lang hinter verschlossene Türen zurückzogen, spekulierte die Opposition eine Etage tiefer über die möglichen Spielverderber.

Über Parteigrenzen hinweg war man sich einig: Zwei Linksparteiler steckten hinter der Sache, vermutlich zwei der vielen, die Wowereit mit seinem hemdsärmligen Regierungsgebaren in den vergangenen Wochen vor den Kopf gestoßen hatte. Grünen- und FDP-Abgeordnete spekulierten über einen Racheakt des ausscheidenden Kultursenators Thomas Flierl (Linkspartei). Als sein Abgang aus dem Amt feststand, hatte er öffentlich orakelt, man solle nicht vergessen, dass er auch an der Wahl teilnehme. Doch gestern blieb es bei Vermutungen.

Die hatte die Linkspartei wohl schon erahnt – und beeilte sich, gegenzusteuern. Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei) urteilte, das Ergebnis des ersten Wahlgangs sei bedauerlich. „Wir gehen aber davon aus, dass unsere Fraktion gestanden hat.“ Auch Linkspartei-Landeschef Klaus Lederer wollte nicht, dass seine Partei eilends zum Schuldigen gemacht wird. Er gehe davon aus, dass seine Fraktion ihre Stimme geschlossen für Wowereit abgegeben habe, sagte er. Auch der sofort verdächtigte Exkultursenator Thomas Flierl wollte die Vermutungen zerstreuen, er zähle zu den Spaßverderbern: Es gebe keinen Anlass, anzunehmen, „dass es in unseren Reihen passiert ist“.

So oder so: Das Ansehen des Mannes, dem vor Monaten manche selbst die SPD-Kanzlerkandidatur zutrauten, ist angeschlagen. CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger sprach von „einer schwachen Regierung“.

Die Grünen-Chefin Franziska Eichstätt-Bohlig geht nach der Abstimmungsschlappe davon aus, dass die Koalition „ein oder zwei Jahre hält, nicht mehr“. Andere Grüne vermuten, dass der Widersacher aus den SPD-Reihen kam. „Da will einer diese Koalition nicht.“ Dafür spräche, dass im zweiten Wahlgang mindestens ein Abgeordneter der Koalitionsfraktionen gegen Wowereit stimmte. Hingegen orakelt Wowereit, dass seine Fraktion ihn „voll unterstützt“ habe.

Einen Vorteil habe die Niederlage, unkte der Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann: Vielleicht komme der Regierende nun endlich „von seinem hohen Ross herunter“. Denn Wowereit sei angeschlagen: „Das wird ihm nachhängen.“

Senatoren ernannt

Mit deutlicher Verspätung begann das protokollarische Nachspiel dieses Tages: Im Roten Rathaus ernannte der zuvor vereidigte Wowereit am späten Nachmittag die acht Senatoren, vier Frauen und vier Männer. Im Wappensaal überreichte das angeschlagene Stadtoberhaupt seinen Regierungsmitgliedern die Ernennungsurkunden. Bislang wählten die Abgeordnetenhausmitglieder die Senatoren. Seit einer Verfassungsänderung im Frühjahr darf Wowereit, was den anderen Länderchefs schon seit längerem zusteht: seine Senatoren selbst auswählen – ohne Parlamentszustimmung. Das anschließende Gruppenfoto auf der Rathaustreppe war da nur noch lästige Formsache.

Wowereit hat durch seine Wahlschlappe erfahren, dass seine neugewonnene Richtlinienkompetenz auch schlechte Seiten hat: Parlamentarier strafen unliebsame Senatorenkandidaten nicht mehr persönlich bei Wahlen ab – wie beispielsweise den innerparteilich unbeliebten Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) im Jahr 2002. Der Regierungschef selbst ist zum Blitzableiter geworden.

Sichtlich gut gelaunt war der FDP-Fraktionschef Martin Lindner. Er musste am wenigsten Rücksicht auf die Befindlichkeiten von SPD und Linkspartei nehmen. Weiß er doch, dass eine Regierungsbeteiligung seiner Partei in weiter Ferne steht. In Anlehnung an die vierfache demütigende Abstimmungsniederlage der damaligen Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis (SPD), im März 2005, erfand Lindner ein sehr unschönes Wort für den Regierungschef: „Herr Klaus Simonis“.