Nach Fidel? Fidel!

Aus Havanna Toni Keppeler

In Havanna gehen die Dinge ihren sozialistischen Gang. Am Malecón stehen, wie schon seit Jahren, fein renovierte Kolonialhäuser in zarten Pastellfarben neben bewohnten Ruinen, deren Arkaden langsam vom salzigen Wind zerfressen werden. Die Granma, das offizielle Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, ist weiterhin handliche acht Seiten dünn. Die Hälfte davon ist dem „Comandante en Jefe“ gewidmet: Staats- und Parteichef Fidel Castro. Neues erfährt man dabei nicht.

Die Doppelseite in der Mitte des Blatts ist in diesen Tagen einer Serie mit historischen Zeugnissen über die Landung der „Granma“ am 2. Dezember vor 50 Jahren gewidmet. Gemeint ist damit nicht die Zeitung, sondern jene heruntergekommene Ausflüglerjacht, mit der Castro und seine Getreuen 1956 im Südosten der Insel mehr strandeten als landeten, um von dort aus den bewaffneten Kampf gegen die Batista-Diktatur aufzunehmen. Das Boot gab dem Zentralorgan der kubanischen Kommunisten seinen Namen. Heute steht es in einem gläsernen Sarg hinter dem Museum der Revolution.

Ein paar Schritte weiter, im Park gegenüber dem noblen Hotel Inglaterra, spielen die Männer auf den Steinbänken Schach im Funzellicht der Laternen. Die reichlich vorhandenen Polizisten überprüfen herumstreunende Jugendliche. Wer keine Papiere dabeihat, wird aufs Revier mitgenommen. Aber das war auch schon so, bevor man Fidel Castro am 31. Juli zu einer Notoperation ins Krankenhaus einlieferte. Und genauso wie vor diesem Tag werden auch heute europäische Männer, die sich in ein Café oder Restaurant in Althavanna setzen, von jungen Frauen angesprochen. Sie fragen, ob sie sich dazusetzen dürfen. Ob sie sich einen Cuba libre bestellen dürfen. Ob man Interesse habe an einer „lockeren Beziehung“. Mit diesen Frauen kann man nicht über Fidel Castro sprechen.

Aber mit allen anderen Kubanern. Nur dass die dann nicht mit Namen genannt werden wollen. Diejenigen, die ihn nicht mögen, nennen auch Castro nicht beim Namen. Sie sprechen von „ihm“, oder von „diesem Herrn“. Besonders Verbitterte nennen ihn auch den „Pfau“ oder den „Tiger“. Und alle, ob sie ihn mögen oder nicht, sind davon überzeugt, dass er sich heute, am 2. Dezember, vom Krankenbett erheben und bei der großen Militärparade auf dem Platz der Revolution dabei sein wird. Wie sollte es auch anders sein? Er gehört einfach dazu, wie die „Granma“ und die Schachspieler, die Polizisten und die jungen Frauen, die man hier jineteras – „Reiterinnen“ – nennt. Wenn er kommt, kann alles weiterhin seinen sozialistischen Gang gehen. Und wenn er nicht kommt?

Fidel Castro hat sich alle Mühe gegeben, die Erwartungen zu dämpfen. Die letzten Bilder von ihm flimmerten am 28. Oktober über den Bildschirm. Man sah einen schwachen, gebrechlichen Greis, der unsicher aus einem Aufzug tapste. Kein Wunder. Der Mann wurde am 13. August 80 Jahre alt. Zwei Wochen zuvor sind seine Ärzte dem Tod gerade noch einmal zuvorgekommen. Die Geburtstagsfeier musste deshalb verschoben werden und wird in diesen Tagen nachgeholt.

1.800 Gäste aus 80 Ländern

Eröffnet wurde sie am Dienstag im Karl-Marx-Theater mit einer Kulturnacht. 1.800 geladene Gäste aus 80 Ländern waren gekommen. Der Jubilar blieb der Feier fern. Er entschuldigte sich mit einer schriftlichen Botschaft. „Nach Auskunft meiner Ärzte bin ich nicht in der Verfassung, an einer so großen Veranstaltung teilzunehmen.“ Dazu gab es die üblichen Spitzen gegen die US-Regierung, das übliche Lob der kubanischen Revolution, den üblichen guten Rat für den „lieben Hugo“ Chávez, Präsident von Venezuela. Sozialistischer Alltag eben, keine Besonderheiten.

Oder doch? Am Mittwoch und Donnerstag ging die Geburtstagsfeier mit einem Kongress zum Thema „Erinnerung und Zukunft, Kuba und Fidel“ weiter. Das klingt schon sehr nach Grablegung, nach Nachruf. Gerade so, als wäre die Epoche Fidels abgelaufen, als würde nun die ihm nachfolgende Zeit des Fidelismus beginnen. Viel deutet darauf hin, dass Kuba schon mitten in diesem Umbruch steckt. Dass die Macht vom „Comandante en Jefe“ auf die Kommunistische Partei übergeht und der alles kontrollierende Patriarch sich in eine Revolutionsikone verwandelt. Außerhalb Kubas ist er das bereits. Aber auch auf der Insel selbst hat der Transformationsprozess von Fidel zum Fidelismus längst begonnen.

Castro selbst hat sich lange dagegen gewehrt. Einen Kult um seine Person hat er immer abgelehnt. Für Heldenverehrung musste der tote Ché Guevara herhalten. Castro-Statuen gibt es in Kuba nicht; noch nicht einmal eine offizielle Biografie. Fidels Geburtstag war stets ein ganz normaler Arbeitstag, für ihn und für alle anderen auch. Bis zum 75. Da wurde Castro zum ersten Mal amtlich gefeiert, mit Extrablättern und Sondersendungen im Fernsehen. Und um diese Zeit wurde auch die Nachfolge geregelt; so, wie sie jetzt – nach offizieller Diktion „übergangsweise“ – vonstatten gegangen ist: Bruder Raul, 75, übernahm das Ruder. Er hatte schon vor Fidels Krankheit mehrfach verkündet, nur die Partei könne der rechtmäßige Erbe des Alten sein.

Entsprechend regiert der kleine Bruder ohne Protagonismus, gemeinsam mit einem Kollektiv. Zu dessen führenden Köpfen gehören: Carlos Lage, 55, der Manager der Wirtschaftsreformen nach dem Untergang des Sowjetreichs und schon vorher faktisch so etwas wie ein Premierminister. Ricardo Alarcón, 69, Präsident der Nationalversammlung und der Mann, der dem Übervater rhetorisch am nächsten kommt. Er wurde schon von Fidel mit der Pflege der delikaten Beziehung zu den USA betraut. Und Felipe Pérez Roque, 41, Außenminister und als ehemaliger Privatsekretär Fidels dessen treuester Knappe. Er könnte der erste Vertreter eines orthodoxen Fidelismus werden.

Wie aber wird er aussehen, dieser Fidelismus ohne Fidel? Darüber wird viel spekuliert. Man sagt, Raul habe sich sehr für das chinesische Modell einer wirtschaftlichen Öffnung unter dem politischen Monopol der Partei erwärmt. Tatsächlich hat er die von ihm seit der Gründung geführte Armee zum größten Wirtschaftsunternehmen des Landes ausgebaut und führt es effizient wie ein kapitalistischer Manager. Auch Carlos Lage werden solche Tendenzen nachgesagt. Schließlich hat er zu Zeiten der tiefsten Krise, als das kubanische Inlandsprodukt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion um fast 40 Prozent einbrach, Bauernmärkte etabliert, selbstständige Arbeit zugelassen und den Dollar als Zahlungsmittel legalisiert.

Doch diese Krise ist überwunden. Nach jährlichen Wachstumsraten von um die 5 Prozent im vergangenen Jahrzehnt hat das Inlandsprodukt 2005 gar um fast 12 Prozent zugelegt und das Niveau von der Zeit vor der Krise wieder erreicht. Der Tourismus boomt, der Weltmarktpreis für Nickel, eines der wichtigsten Exportprodukte, ist so hoch wie seit Jahren nicht mehr.

Selbst der Zuckerpreis hat sich erholt. Venezuela liefert genügend billiges Öl und nimmt als Bezahlung die Dienstleistung von kubanischen Ärzten. Kuba geht es derzeit so gut, dass Oberfidelist Pérez Roque gemeinsam mit dem Zentralbankpräsidenten Francisco Soberón eine Rezentralisierung der Wirtschaft ins Werk gesetzt hat, mit der viele der vorsichtigen Öffnungen wieder zurückgenommen werden.

Es bleibt sogar wieder Geld übrig. Die Regierung investiert Abermillionen in die marode Infrastruktur und das Transportwesen, saniert und modernisiert die in der Krise heruntergekommenen Krankenhäuser. Dem Volk lässt sie ein paar nützliche Konsumgüter zukommen: Alle kubanischen Familien haben in den vergangenen Monaten einen chinesischen Reiskochtopf erhalten – und eine zartgrüne Plastikkanne mit eingebautem Tauchsieder. Dem Vernehmen nach sollen bald Fernsehgeräte und Kühlschränke folgen. Ob sich die Kubaner damit zufriedengeben werden?

Ganz sicher war sich Raul Castro nicht. Er hat inzwischen eingestanden, dass er in den Stunden nach der Einlieferung seines Bruders ins Krankenhaus die Armee in Alarmbereitschaft versetzt hatte. „Wir konnten nicht ausschließen, dass irgendjemand in der US-Regierung durchdreht.“ Er hatte wohl auch den inneren Feind im Auge. Doch inzwischen ist die Anspannung gewichen. Funktionäre von Regierung und Partei wirken so gelassen wie lange nicht. Hat ja alles bestens funktioniert mit dem sanften Übergang von der Einmann- zur Parteienherrschaft.

Doch vielleicht lehnen sie sich zu früh zurück. Kuba sei wie eine große Familie, sagt einer von denen, die nicht genannt werden wollen. Und Fidel Castro der Übervater. Kubanische Kinder gehorchen ihrem Vater, selbst wenn der sich irren sollte. „Wenn der Vater gestorben ist, versucht der große Bruder, das Kommando in der Familie zu übernehmen. Den respektiert man vielleicht, aber man gehorcht ihm nicht.“ Und weil „dieser Herr“ das wisse, werde er zur Militärparade kommen. „Der Tiger wird noch einmal auftreten und die Zähne zeigen.“ Ob er es wirklich tut, wird sich heute herausstellen.