Berlin erlebt zweiten Frühling

Ein Herbst mit Rekordwärme bringt Zierkirschen zum Blühen und Fichtenröhrenläuse zum Jubeln. Schuld am lauen Lüftchen ist laut Experten der Klimawandel – und absurderweise der Umweltschutz

VON ULRICH SCHULTE

Dass etwas nicht stimmt, kann Holger Schmidt auf seinem eigenen Balkon beobachten. Wenn der Leiter des Pflanzenschutzamtes aus dem Fenster schaut, sieht er blühende Geranien. Und sie tun dies mitten im Dezember. Die Geranien haben Verspätung, andere Pflanzen legen Frühstarts hin. „Tatsächlich blühen im Moment einige Arten, die erst Anfang nächsten Jahres dran wären“, sagt Schmidt. Er berichtet von Sträuchern wie Mahonien oder Forsythien, die frisch austreiben, und von Zierkirschbäumen im Britzer Garten, die an windgeschützten Standorten in voller Blüte stehen.

Gefühlt befindet sich die Hauptstadt seit Wochen im zweiten Frühling. Die Berliner schwitzen, wenn sie Fahrrad fahren, sie joggen im T-Shirt und schlürfen ihren Glühwein in einer lauwarmen Brise. „Einen solch extrem warmen Herbst hatten wir noch nicht“, sagt Werner Wehry, der am Institut für Meteorologie der Freien Universität lehrt. Der Datenbestand des Instituts reicht bis ins Jahr 1761 zurück. „Im September, Oktober und November lagen die Temperaturen um rund 4 Grad über dem Mittel – das ist äußerst ungewöhnlich.“

Wenn der Mensch das Klima aufheizt, indem er Kohlendioxid in die Luft bläst, macht sich das eben in Berlin bemerkbar – auch wenn die meteorologischen Abläufe viel zu komplex für einfache Schuldzuweisungen sind. Wehry nennt einen weiteren Aspekt: „Die Nebelhäufigkeit im Herbst hat sich halbiert. Weniger Nebel bedeutet mehr Sonnenschein und steigende Temperaturen.“ Habe man zwischen 1961 und 1990 durchschnittlich 14 Nebeltage im Herbst gezählt, seien es zwischen 1991 und 2006 nur noch 7 gewesen.

Wieder ist der Mensch schuld, diesmal allerdings verdient er Lob. Denn Nebel bildet sich, wenn kleinste Wassertröpfchen an Staubteilchen kondensieren. Der Grund für das wundersame Nebelverschwinden: Seit Anfang der 90er-Jahre hat die Luftverschmutzung drastisch abgenommen, weil Fabrikschornsteine Filter bekamen und Ofenheizungen ausgemustert wurden.

Ebenso komplex wie die Ursachen sind auch die Folgen des subtropisch anmutenden Advents. Für die voreiligen Pflanzen gilt frei nach Rilke: Wer jetzt blüht, wird lange blütenlos blüten. „Neue Knospen bilden sich nicht. Die Blüte fällt also im nächsten Jahr schwächer aus“, sagt Schmidt.

Aber es gibt auch Gewinner. Die Fichtenröhrenlaus zum Beispiel kräuselt vor Vergnügen ihren Stechrüssel. Die Tierchen überwintern ausgewachsen und als Ei, in einem harten Winter gehen die erwachsenen drauf. Bleibt er so mild wie bisher, wird sich die Laus im Frühjahr umso agiler auf Fichtennadeln stürzen – und mit ihr viele andere Schädlinge. Wobei das Insekt an sich den Menschen in puncto Wetterfühligkeit alt aussehen lässt: Die Miniermotte fühlt sich noch bei Temperaturen von minus 20 Grad wohl, kuschelig im Erdboden verpuppt, wohlgemerkt.

Die Chancen auf weiße Weihnachten stehen eher schlecht, schon ab Mittwoch soll es wieder milder werden. Uns ist es recht, vielleicht knacken wir ja den Rekord von 1977. Damals schaufelte ein Sturm an Heiligabend warme Luft aus Südwest herbei. Das Ergebnis: entspannte 16 Grad.