Ein kleines Bundesverfassungsgericht

Das Unverständnis in der großen Koalition über die Amtsführung des Bundespräsidenten wächst. Union und SPD greifen Horst Köhler nach seinem Veto gegen das Verbraucherinformationsgesetz offen an: Der Präsident überschreite seine Kompetenzen

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Rumgenörgelt am Bundespräsidenten haben in den letzten Monaten viele in der großen Koalition. Die eine oder andere Rede des Staatsoberhauptes hat nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Konservative verärgert. Aber die Kritik, der sich Horst Köhler jetzt ausgesetzt sieht, ist neu, ungewöhnlich und brisant: Führende Politiker der SPD und der Union äußern offen ihr Unverständnis über die Amtsführung des Bundespräsidenten.

Vehementen Widerspruch erregt Köhlers Rolle im Gesetzgebungsprozess. Der Bundespräsident hatte am Freitag das Verbraucherinformationsgesetz wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unterzeichnet. Sechs Wochen zuvor hatte Köhler bereits das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung gestoppt. „Es gibt für die verfassungsrechtliche Überprüfung eine Institution, die dafür besonders berufen ist, und das ist das Bundesverfassungsgericht“, sagte Olaf Scholz, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, am Mittwoch in Berlin. Dagegen sei es die Aufgabe des Bundespräsidenten, vom Gesetzgeber beschlossene Gesetze auszufertigen, „es sei denn, ihnen steht die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben“. Mit Blick auf das Verbraucherschutzgesetz fügte Scholz hinzu: „In diesem Fall bin ich nicht der Meinung, dass man das so sagen kann.“

Scholz vermied es aus Rücksicht auf das höchste Staatsamt, Bundespräsident Horst Köhler beim Namen zu nennen. Auf die Frage, ob man Köhler, wenn er sich wie ein Politiker benehme, nicht auch wie einen Politiker behandeln sollte, antwortete der SPD-Fraktionsgeschäftsführer: „Wir haben einen angemessenen Umgang miteinander, ich sehe da keinen Änderungsbedarf.“ Er befürchte auch nicht, dass die Gesundheitsreform oder das Gesetz zur Regelung von Wohnkosten für Hartz-IV-Empfänger von Köhler kassiert werde. Beide Gesetze nannte er „eindeutig verfassungskonform“.

Dennoch wird Scholz’ Kritik am Amtsverständnis des Bundespräsidenten von vielen Spitzenleuten der großen Koalition geteilt. Sie sind verärgert darüber, dass Köhler versucht, seine Kompetenzen auszubauen und aus dem Bundespräsidialamt „ein kleines Bundesverfassungsgericht“ zu machen. Im Falle des Verbraucherinformationsgesetzes gebe es zwei konkurrierende juristische Interpretationen, argumentiert die Koalitionsspitze. Der Bundespräsident hätte also, trotz Bedenken, das Gesetz unterzeichnen können.

SPD-Fraktionschef Peter Struck hatte Köhler am Dienstagabend hinter verschlossenen Türen indirekt angegriffen. In der Fraktionssitzung sagte Struck: „Im Übrigen gilt generell für Gesetze: Kommen begründete Bedenken auf, gilt: Die Instanz, die letztendlich und abschließend über die Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden hat, ist das Bundesverfassungsgericht und niemand sonst.“ Daraus habe Bundespräsident Johannes Rau, zum Beispiel beim Zuwanderungsgesetz, die richtigen Schlüsse gezogen. „Daran könnte man sich ein Beispiel nehmen.“ Köhlers Vorgänger Rau hatte im Jahr 2002 zwar das Zuwanderungsgesetz kritisiert, es aber trotzdem ausgefertigt. Gleichzeitig hatte er eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht als „wünschenswert“ angemahnt. Das Gesetz wurde vom Gericht später für nichtig erklärt.

Die Bundeskanzlerin hat sich mit öffentlicher Kritik am Bundespräsidenten bislang zurückgehalten. Noch vor Weihnachten wird Angela Merkel mit Horst Köhler jedoch zu einem ihrer regelmäßigen Treffen zusammenkommen. Dann kann sie dem Präsidenten direkt sagen, was sie von seiner Arbeit hält.

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