Die Dame, die das Demoskop erfand

Sie hat die „Schweigespirale“ erfunden, in Deutschland die Meinungsforschung eingeführt und ein Dorf am Bodensee berühmt gemacht. Ein Besuch bei Elisabeth Noelle-Neumann, die am kommenden Dienstag 90 Jahre alt wird

von TILMANN P. GANGLOFF

Als Elisabeth Noelle-Neumann im Januar 1933 ins Internat nach Salem kam und zum ersten Mal in Friedrichshafen am Ufer des Bodensees stand, hatte sie das sichere Gefühl, hier werde sie ihr Leben verbringen. Nach dem Krieg lebte sie mit ihrem ersten Mann Erich Peter Neumann in Tübingen und traf einen Herrn aus Überlingen, der ein Haus in Allensbach besaß; man wurde sich rasch einig. Der Herr arbeitete als Übersetzer für die französische Besatzungsregierung, die in Erfahrung bringen wollte, wie es um die deutsche Jugend bestellt sei: welche Hoffnungen sie habe, wie sie über die jüngste Vergangenheit denke etcetera. Der Vorgesetzte des Übersetzers hatte gerade das Buch „Meinungs- und Massenforschung in U.S.A.“ gelesen, die Dissertation einer jungen Publizistikwissenschaftlerin. Der Offizier bat seinen Übersetzer herauszufinden, ob die Dame noch lebe und wo sie sich aufhalte. „Kein Problem“, antwortete der, „die wohnt bei mir zur Miete.“

Das beschauliche Allensbach, am malerisch schönen Gnadensee mit Blick auf die Reichenau gelegen, war damals, 1947, ein Dorf wie viele andere. Niemand konnte ahnen, dass der Ort in der Nähe zur Schweiz Jahrzehnte später weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt sein würde. Elisabeth Noelle-Neumann erinnert sich: „Wir waren noch nicht lange dort eingezogen, als eines Tages ein französischer Offizier an der Haustür klingelte. Er fragte mich, ob ich bereit sei, im Auftrag der französischen Militärregierung Jugendumfragen zu organisieren. So kam das Institut letztlich durch eine Kette von Zufällen nach Allensbach. Der Standort hat sich aber als sehr gut erwiesen. Weitab vom Zentrum der politischen Aufregung lassen sich viele Vorgänge besser überblicken.“

Elisabeth Noelle hatte die Demoskopie mit Anfang zwanzig als Austauschstudentin in Amerika kennen gelernt: „Ich war begeistert von der Möglichkeit, die Meinung einer ganzen Bevölkerung verlässlich abzubilden und so auch das Ringen der Meinungen sichtbar werden zu lassen. Die ganze Art der offenen politischen Auseinandersetzung im Wahlkampf, zu der seit dem Erfolg George Gallups mit seiner Wahlprognose zur Präsidentschaftswahl von 1936 auch die Demoskopie gehörte, war für mich ungeheuer faszinierend. Ich war ja aus der Diktatur nach Amerika gekommen. Im von den Nazis beherrschten Deutschland wäre ein solches freies Spiel der Meinungen undenkbar gewesen.“

In einer noch heute existierenden Garage am See gründeten Elisabeth Noelle-Neumann und ihr Mann 1947 das Institut für Demoskopie (IfD), das allerdings schon drei Jahre später in den Ortskern umzog. Von außen nimmt sich das 1610 erbaute einstige Bauernhaus, eines der ältesten noch erhaltenen Gebäude in Allensbach, eher bescheiden aus. Allerdings hat es sich mittlerweile kräftig ausgebreitet: Vier weitere Häuser sind im Lauf der Jahrzehnte in unmittelbarer Umgebung dazugekommen.

Die Einheimischen haben ein entspanntes Verhältnis zum weltberühmten Institut, dem zweitgrößten Arbeitgeber im Ort. Allenfalls nervt es sie, wenn sie außerhalb ihrer Region mit immer wieder derselben Frage konfrontiert werden: „Allensbach? Wo die Umfragen herkommen?!“ Auch Bürgermeister Helmut Kennerknecht, trotz seines CDU-Parteibuches so etwas wie der ökologische Vordenker im Kreis Konstanz, kann die Frage wahrscheinlich nicht mehr hören. Touristisch, gesteht er, zahle sich die Berühmtheit kaum aus: „Niemand macht Ferien in Allensbach, nur weil es hier das Institut für Demoskopie gibt.“ Natürlich sei es trotzdem „ein Glücksfall“ für den Ort.

Im Dorfalltag spielt es naturgemäß keine besonders große Rolle. Mit der Bitte um Vorhersagen über den Ausgang der Gemeinderatswahlen zum Beispiel werden die Prognose-Profis verschont. Das ginge auch gar nicht: Für eine repräsentative Umfrage müssen mindestens 2.000 Menschen befragt werden; da könnte man sich in Allensbach auch gleich jeden Wahlberechtigten vornehmen. Außerdem ist die CDU sowieso regelmäßig stärkste Fraktion. Hin und wieder aber zieht der Bürgermeister die 150 Meter die Straße rauf residierenden Demoskopen zu Rate. Befragungen etwa nach der Akzeptanz eines geplanten Altenwohnheims oder eines Jugendtreffs werden großzügig kostenlos durchgeführt.

Ansonsten aber machen sich die Allensbacher nicht viele Gedanken über das Wesen der Demoskopie. Es gibt sie eben. Ganz ähnlich sieht das offenbar auch im Rest des Landes aus: In der Öffentlichkeit, den Medien und in Teilen der Politik, sagt Noelle-Neumann, sei die Meinungsforschung etabliert, „wenn ihr Gebrauch auch oft zu oberflächlich ist. In der Wissenschaft und in manchen Diskussionen um gesellschaftliche Grundsätze hat sie sich dagegen noch immer nicht durchgesetzt. Das hat zur Folge, dass bis heute viele Irrtümer über die Gesellschaft im Umlauf sind. Oft kann die Demoskopie ganz klar zeigen, welche Annahmen über die Verhaltensweisen oder Motive der Bevölkerung richtig sind und welche nicht. Sie kann damit Ideologiefragen zu Sachfragen machen. Wem aber diese Informationen fehlen, der läuft Gefahr, Entscheidungen zu treffen, die das Gegenteil dessen bewirken, was sie bewirken sollen.“

Kein Wunder, dass diese immer noch beeindruckend rüstige Frau zeit ihres Lebens angeeckt ist: Sie hat sich nie gescheut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, und stets selbstbewusst in der Öffentlichkeit ihre Meinung vertreten. Respekt nötigt nicht zuletzt die Tatsache ab, dass sie sich in einer Männergesellschaft durchgesetzt und sich Dinge getraut hat, von denen andere Frauen zur damaligen Zeit nicht mal zu träumen gewagt hätten. Freimütig bekennt sie jedoch, darüber nie nachgedacht zu haben. „Ich habe einfach immer getan, was mir richtig erschien. Im Frühjahr 1943 führte mich Erich Welter zum ersten Mal in den Konferenzraum der Frankfurter Zeitung, wies mir meinen Platz am Redaktionstisch an und sagte: ‚Sie sind die erste Frau, die an diesem Tisch Platz nimmt.‘ Ich antwortete: ‚Das interessiert mich nicht.‘“ Ohnehin hat sie nie den Eindruck gehabt, dass ihr „etwas verwehrt wurde, weil ich eine Frau bin. Eher im Gegenteil.“

In Allensbach war sie ohnehin rasch akzeptiert. Wie rasch jemand Zugang zur Dorfgemeinschaft findet, hängt auch von seiner Beziehung zur alemannischen Fasnacht ab.

Elisabeth Noelle-Neumann machte von Anfang an begeistert mit. Das Institut war beim Umzug stets mit einem eigenen Wagen vertreten, und noch bis vor wenigen Jahren ließ es sich die große Demoskopin nicht nehmen, eine Büttenrede zu halten. Mittlerweile macht sie sich in der dörflichen Öffentlichkeit sehr rar. Auch bei Spaziergängen in der Umgebung trifft man sie nur noch selten, und auch ihr grüner Karmann Ghia steht schon seit geraumer Zeit unbenutzt auf seinem Parkplatz.