Blaues Tuch des Stolzes

Kopftücher sind älter als Islam oder Christentum. Ihre Trägerinnen markieren mit dem Stoff ihre Weiblichkeit und ihre Erhabenheit. Oder versuchen es zumindest

VON JUDITH LUIG

„Darum soll die Frau eine Macht auf dem Haupte haben, um der Engel willen“, schreibt Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther. Eine Macht? Ist die Verhüllung also gar kein Zeichen weiblicher Unterwerfung? Der Diskurs um Hauptschmuck wird mittlerweile nur noch auf den Streit um das Kopftuch der Muslima beschränkt. Dabei muss ein Tuch gar kein Hinweis auf Keuschheit und Traditionsbewusstsein der Trägerin sein. In den stofflichen Windungen kann auch ein Aufbegehren stecken, ein Machtanspruch oder ein Ausdruck von Hoheit.

Nach mehr als achteinhalb Jahren in einem Kellerverlies hat Natascha Kampusch sich in diesem Sommer der voyeuristischen Welt zuallererst mit Kopftuch präsentiert. Bedrängt von der Boulevardpresse, die sich unbedingt ein Bildnis der Entführten machen wollte, habe man sich zu einer Zwischenlösung entschlossen. „Gehen wir raus mit diesem Kopftuch“, erklärt ihr Medienberater Dietmar Ecker das Vorgehen. Das Bild ist eine Ikone. Natascha Kampusch mit marienhaftem Schleier, die Augen gen Himmel gerichtet. Wie eine Zwischenlösung sieht das nicht aus.

Nach der Logik des Entführers von Natascha Kampusch, von dem man sagt, dass er mit der Schülerin seine Fantasien einer ständig verfügbaren und beherrschbaren Frau ausleben wollte, wäre die alles hinnehmende Mutter Gottes eigentlich als Personifikation für eine passive Frau passend.

Wie sehr Maria mit ihrem charakteristischen blauen Umhang verbunden ist, erkennt man, wenn man Caravaggios Darstellung des Todes der Madonna anschaut. Das Bild erschreckt, auch 401 Jahre später: Die Haare unbedeckt, das Mieder geöffnet und die nackten Füße dem Betrachter entgegengestreckt, liegt Maria starr da. Beistehende haben die Ohnmächtige aufgebahrt, dabei hat sie ihr Tuch verloren, das ihr nun jemand achtlos in den Schoß gelegt hat. Marias Umhang hat keine schützende Funktion mehr. Sie wird zu einer Sterblichen. So angreifbar, dass man sich erzählt, Caravaggio habe eine Prostituierte Modell gestanden.

Aber Kampusch will gerade kein Opfer sein. Sie hat sich selbst befreit, hat nicht alles hingenommen. Die Öffentlichkeit wollte sie vielleicht gerne als Maria sehen. Aber ihr erstes Fernsehinterview im ORF – diesmal mit einem fliederfarbenen Kopftuch, einer Mischung aus Strand- und Abendmode – stellt sie deutlich in eine gegenteilige Linie.

Kampuschs Kopfschmuck ist die Umkehrung einer unterwürfigen, schamhaften Verhüllung. Es ist eine Selbstbehauptung. Je nachdem wie es gebunden ist, erhöht so ein Tuch seine Trägerin sogar, macht sie größer und stellt sie aus. Während offene Haare spätestens seit der Renaissance Zeichen von Intimität sind, symbolisieren Kopfbedeckungen das öffentliche Auftreten. Wenn auch seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besonders eigenwillige Frisuren – der Bob der roaring twenties, die Dauerwelle des Wirtschaftswunders oder die asymmetrische Haarverstümmelung des 21. Jahrhunderts – teils die Funktion von Kopfbedeckungen übernommen haben, so bleibt die stoffliche Krönung des Haupts doch als Markierer von Außergewöhnlichkeit unübertroffen.

Wer sich heute mit modischem Kopftuch präsentiert, der zieht in jedem Falle die Aufmerksamkeit auf sich. Er, oder besser gesagt sie, stellt sich in eine Tradition bedeutungsschwerer Kopfbedeckungen und zeigt gleichzeitig eine besondere Art des self-fashioning. Ein nicht eindeutig religiöses Kopftuch fällt auf, sticht aus der Menge hervor und es zeigt, dass die Trägerin sehr bewusst ihre Kleidungsstücke aufeinander abstimmt.

Übrigens ist das auch bei den religiös Motivierten nicht anders. „Ob fromm, nichtfromm oder halbfromm: Das Kopftuch ist hier längst in eine Mode übergegangen, die sich nicht mehr an den Gepflogenheiten der Herkunftsländer der Eltern orientiert“, schreibt Hilal Sezgin im Tagesspiegel und zitiert ihre Nichte als Autorität zur hippen marokanischen Tragweise: „Unten drunter haben die ein schwarzes Tuch, aber davon gucken nur so ein paar Zentimeter raus, und oben drüber haben die noch ein weißes oder buntes – das sieht vielleischt coool aus!“

Die Verbindung zwischen Tüchern und Weiblichkeit ist älter als Islam oder Christentum. Vor 5.000 Jahren trugen bereits sumerische Priesterinnen Tuch, so hat die türkische Wissenschaftlerin Muazzez Ilmiye Cig jetzt herausgefunden. Als besonders keusch dürfen diese Gottesfrauen deswegen aber nicht gelten. Die Frauen führten junge Männer in die Liebeskunst ein. Für diese Erkenntnis wurde die 92-jährige Cig wegen Beleidigung des Islams angeklagt. Das Kopftuch als Erkennungszeichen für erotische Liebe – diese Erkenntnis schien brisant genug, dass sich am 5. November ein Istanbuler Gericht damit beschäftigte. (Die Angeklagte wurde freigesprochen.)

Die Kopfbedeckung von der im Irak entführten Susanne Osthoff ist die Entgegnung einer Frau, die vorher keine Stimme hatte. Nach ihrer Befreiung präsentierte sich die Archäologin bei al-Dschasira mit einem schwarzen Schal, locker ums Haar gewunden. „Sie sagt damit: ‚Ich gehöre in dieses Land!‘“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Susanne Scholz. „Und an die westliche Welt gewandt sagt sie: ‚Vereinnahmt mich nicht!‘“ Die Verhüllung sei gleichzeitig ein „sich dem Blick Entziehen und sich Ausstellen als zugehörig zu einer anderen Kultur (auch wenn die das ganz anders sehen mag)“. Das Kopftuch ist also auch ein Zeichen von Widerstand. In einer Kultur, in der es nicht mehr alltäglich ist, wird es zum Accessoire einer Frau, die sich nicht so leicht einordnen lassen möchte.

Kopftücher verleihen ihrer Trägerin eine Aura. Das Auftreten wird zur Inszenierung. Zugleich verlangsamen die Tücher auch die Bewegungen der Trägerin, machen sie majestätischer, verlocken zur theatralischen Pose. Mit einem Schmucktuch wirft man den Kopf nicht mehr so wild zurück, hält Abstand zu anderen, reißt sich nicht mehr den Pulli so leicht vom Leib. So ist das Tragen eines Tuches nicht immer nur unanstrengend – wie die Trägerinnen selbst.

Während der Schleier Teil einer Männerfantasie ist, ist das Kopftuch oft eine Frauenfantasie. Und ebenso wie Männerfantasien sind Frauenfantasien nicht ganz ungefährlich für die Subjekte, die sie kreieren. Isadora Duncan begründete ihre Karriere mit Tanz in schleierhaften Kostümen und wurde mit ihren langsam fließenden Bewegungen zur Wegbereiterin des modernen Tanzes. Ihre Vorliebe für teuren Stoff kostete sie sogar das Leben. Bei einem Ausflug verfing sich ihr roter Seidenfoulard in den Radspeichen des offenen Bugattis und brach ihr das Genick. Als Isabella Thorpe, die gerissene Antagonistin aus Jane Austens Roman „Northanger Abbey“ (1817), wegen ihres Liebeslebens zum Stadtgespräch zu werden droht, präsentiert sie sich im letzten Modeschrei: einem Turban. Mit dem gewundenen Kopfputz stellt sie sich in die Tradition des Klischees von der lasziven Orientalin, zeigt aber auch zugleich, dass sie über das Urteil der spießigen Kurgesellschaft erhaben ist.

Denn die Frau, die ihr Kopfhaar mit Textilien ins Dramatische steigert, signalisiert ihrer Umwelt, dass sie sich über deren Niedrigkeit erhebt. Der Turban auf dem Kopf ist nichts anderes als ein Piedestal der Selbstermächtigung. Als Pharaonin ihrer eigenen Grandezza behauptet die Selbstgekrönte ihre Autonomie und verrät ihrer Umwelt doch, dass sie auf soziale Ehrerbietung angewiesen bleibt. Vorsicht: Wirkt die Würde bloß aufgestülpt, ist die Fallhöhe beträchtlich.

JUDITH LUIG, 32, ist Redakteurin im taz.mag