Koalition streitet über Abschuss

SPD findet Überlegungen des Innenministeriums „nicht akzeptabel“, die Tötung unschuldiger Flugpassagiere bei drohenden Terroranschlägen zu erlauben – obwohl das Verfassungsgericht die Abwägung von Leben gegen Leben verboten hatte

VON CHRISTIAN RATH

In der großen Koalition bahnt sich ein neuer Konflikt um den Einsatz der Bundeswehr im Innern an. Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz lehnte gestern neue Vorschläge aus dem Haus von Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ab, die bald wieder den Abschuss von entführten Passagierflugzeugen erlauben sollen. „Diese Überlegungen gehen zu weit, dabei mache ich nicht mit“, sagte Wiefelspütz der taz.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar Teile des rot-grünen Luftsicherheitsgesetzes für verfassungswidrig erklärt. Es verstoße gegen die Menschenwürde, wenn ein Gesetz die Tötung unschuldiger Flugpassagiere erlaubt, um die Nutzung eines entführten Jets für Terroranschläge zu verhindern. Entführte Flugzeuge ohne Passagiere dürfe die Bundeswehr zwar im Extremfall abschießen, aber nur nach einer Grundgesetzänderung. Die Politik überlegt seit Monaten, ob und wie das Grundgesetz ergänzt wird und wie dann das Luftsicherheitsgesetz neu formuliert werden muss.

Nach einem Arbeitspapier, über das die Welt am Sonntag zu Weihnachten berichtet hatte, erwägt das Bundesinnenministerium nun doch wieder den Abschuss vollbesetzter Jets. Dies solle erlaubt werden, wenn „elementare Angriffe auf Gemeinschaftsgüter“ drohen. Das Verfassungsgericht habe nur die Aufrechnung von Leben gegen Leben verboten, nicht aber von Leben gegen andere Güter.

Wiefelspütz hält auch den neuen Weg für „nicht akzeptabel“. Die Aufopferung unschuldigen Lebens könne nur verlangt werden, wenn „das ganze Gemeinwesen auf dem Spiel steht“, sagte er. Das sei bei Terroranschlägen nie der Fall. „Für andere Gemeinschaftsgüter wie die innere Sicherheit kann der Staat keine unschuldigen Flugpassagiere opfern.“

Der SPD-Politiker folgt damit der Argumentation des Verfassungsgerichts. Karlsruhe ließ offen, ob „der Einzelne im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet“ sei, „sein Leben aufzuopfern“. Die Frage mussten die Richter nicht entscheiden, weil nach ihrer Ansicht die Nutzung entführter Jets als Terrorwaffe nicht „auf die Beseitigung des Gemeinwesens“ gerichtet sei. In solchen Fällen bleibe „kein Raum“ für eine Pflicht, das Leben Unschuldiger zu opfern, erklärte Karlsruhe.

Diese Rechtsprechung könnte die Politik nicht beseitigen, selbst wenn sie es wollte. Schließlich ist jede Grundgesetzänderung unzulässig, die den Schutz der Menschenwürde einschränkt. Das Innenministerium wollte gestern das zitierte Arbeitspapier nicht inhaltlich verteidigen.

Offen ist auch noch, welche Formulierung Wolfgang Schäuble bei einer etwaigen Grundgesetzänderung favorisiert. Er will die Bundeswehr auch für Objektschutz-Aufgaben im Innern einsetzen. Von Schäuble ist aber bekannt, dass er den Hebel für eine Neuregelung bei Artikel 87a sieht, der Militäreinsätze im Verteidigungs- und Aufstandsfall regelt. Doch auch hier gibt es Ärger mit der SPD. „Wir werden keiner Änderung von Artikel 87a zustimmen“, sagt Wiefelspütz. Die SPD werde nur bei einer Ergänzung des Artikels 35 mitmachen, in dem es um die Amtshilfe bei Katastrophen und Unglücksfällen geht.

Bei der Neuregelung ist Innenminister Schäuble federführend, Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) und Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) beraten nur mit. Vermutlich muss erst einmal eine Einigung auf politischer Ebene erzielt werden. Denkbar ist immer noch eine Nulllösung: der Verzicht auf eine Neuregelung, weil Terrorangriffe mit Flugzeugen zum Glück nicht allzu häufig vorkommen.