Die Geburt eines Mythos

„Bedingt abwehrbereit“ hieß ein Spiegel-Titel aus dem Jahre 1962 – und brachte unter anderem Herausgeber Rudolf Augstein ins Gefängnis. Ein Zeitzeuge erinnert sich

Bei den Bundestagswahlen des Jahres 1957 errang Konrad Adenauers CDU im Verbund mit der CSU die absolute Mehrheit. Die Kanzlerdemokratie und mit ihr das bundesdeutsche Milieu der bewusstlosen Selbstzufriedenheit schienen für unabsehbare Zeit gefestigt. Nicht, dass es an Widerstandsbewegungen gefehlt hätte, zum Beispiel gegen die Aufrüstung, die Wehrpflicht, schließlich gegen die drohende Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen.

Aber diese Bewegungen versandeten trotz anfänglichen Massenzulaufs. Dies umso schneller, als die oppositionelle SPD sich von jeder dieser Initiativen zurückzog, ihnen sogar den Herkunftsstempel „Sowjetzone“ aufdrückte. Kein Wunder, dass ein Youngster mit lockerer linker Sozialisation, der 1957 das Studium der Rechte und der Geschichte in München aufgenommen hatte, von der Vergeblichkeit seines politischen Engagements überzeugt war.

Fünf Jahre später hatte sich die Szenerie grundlegend verändert, die Dämmerung von Adenauers Kanzlerschaft war angebrochen. Die These der Christdemokraten, Deutschlands Wiedervereinigung werde das Resultat einer „Politik der Stärke“ sein, war mit dem Mauerbau widerlegt. Allenthalben, im Bereich der Künste und Literatur, der Naturwissenschaften, ja sogar der Publizistik, begann der Boden zu zittern. Und der Sieg John F. Kennedys in den USA erschien vielen der so erfolglos Protestierenden als Präludium einer neuen Ära.

In diese Zeit des beginnenden Aufbruchs und der tastenden Neuorientierung platzte im Herbst 1962 die sogenannte Spiegel-Affäre. Das Nachrichtenmagazin hatte sich der Natorahmenstabsübung „Fallex 62“ angenommen. Das Manöver sollte einen sowjetischen, vom Einsatz von Atomwaffen begleiteten Großangriff auf Westeuropa wie auch die Gegenwehr der Nato (ebenfalls mit Atomwaffen) simulieren. Hierbei zeigte sich auf deutscher Seite ein solches Ausmaß an Desorganisation, dass dem Natostab nichts als eine vernichtende Rüge übrig blieb: „Bedingt abwehrbereit“ – so auch der Spiegel-Titel – lautete das Urteil.

Vorsichtshalber hatten die Spiegel-Rechercheure den Text zweimal gegenlesen lassen: vom SPD-Wehrexperten (und späteren Kanzler) Helmut Schmidt und von Spezialisten des Bundesnachrichtendienstes, zu dessen Chef Arnold Gehlen der Spiegel über seinen Verlagschef Becker beste Kontakte unterhielt. Das Wenige, was beide zu beanstanden hatten, wurde entfernt.

Für Franz Josef Strauß, Verteidigungsminister und Ziel mehrerer Korruptionsenthüllungen des Spiegel, schlug nach dem „Bedingt abwehrbereit“-Artikel die Stunde der Vergeltung. Im Verein mit dem greisen Kanzler und unter Umgehung des FDP-Justizministers Wolfgang Stammberger wurde gegen den Spiegel der Vorwurf des Landesverrats konstruiert, wurden Gefälligkeitsgutachten eingeholt, die Hamburger Polizei ausgeklammert und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Redaktionsräume besetzt. Leitende Redakteure wurden teils unmittelbar verhaftet, teils stellten sie sich freiwillig – wie Rudolf Augstein, Herausgeber des Spiegel. Strauß selbst erreichte es, dass Conrad Ahlers, Mitautor des „Bedingt abwehrbereit“-Artikels, von der Polizei im Urlaub in Spanien verhaftet wurde. Auch er trat dann freiwillig die Heimreise ins Untersuchungsgefängnis an.

Niemand, am wenigsten die Spiegel-Mitarbeiter, hatten mit dem gerechnet, was auf diese Aktion folgte: ein Massenprotest quer durch das politische Spektrum Westdeutschlands, dem sich auch konservative Medien anschlossen.

Zur prägendsten Kraft der Widerstandsaktionen entwickelte sich aber eine junge Studentengeneration, die sich des entpolitisierten Habitus ihrer Vorgänger, der „Flakhelfergeneration“, die der Soziologe Helmut Schelsky auch „die skeptische“ genannt hatte, erst zaghaft, dann brüsk entledigte.

Vorm Hamburger Untersuchungsgefängnis, in dem Augstein „einsaß“, forderten diese Studenten dessen unverzügliche Freilassung. In vielen anderen Städten, so auch in München, ereignete sich Vergleichbares. Auf Agenturfotos sieht man wohlanständige, sorgfältig gekleidete Studis auf der Münchner Demonstration und den frisch gebackenen Rechtsreferendar unter ihnen, der ein selbst gebasteltes Schild mit dem ordentlich zitierten Hinweis aufs Grundgesetz mit sich führt.

Selbst der Schriftsteller Erich Kästner, der nach einem furiosen Kampf gegen die westdeutsche Restauration („Kennt Ihr das Land, wo die Kanonen blühn“) in Resignation und Schweigen verfallen war, wurde von dieser Welle enthusiastischen Protests mitgerissen. Er musste von den Studis und dem Rechtsreferendar nicht lange gebeten werden und hielt von den Stufen des Brunnens vor dem Münchner Universitätsgebäude eine letzte, vor Zorn und Erbitterung bebende Rede.

Die Spiegel-Affäre bot alle Ingredienzen eines Schurkenstücks, sie schien all jenen recht zu geben, die die Bundesrepublik auf einer schiefen Ebene in den autoritären Staat sahen. Mit jeder aufgedeckten Lüge, mit jedem Nachweis, dass systematisch „etwas außerhalb der Legalität“ (so der CSU-Politiker Hermann Höcherl) vorgegangen worden war, verstärkte sich die Wut und verbreiterte sich der gesellschaftliche Widerstand. Auch in konservativen Milieus weckte die Rede Adenauers, wonach die Spiegel-Veröffentlichung einen „Abgrund von Landesverrat“ biete und Augstein „für Geld“ verraten hätte, rechtsstaatliche Bedenken. Binnen weniger Wochen schwenkten die SPD und die FDP als Regierungspartei auf Konfrontation gegen Adenauer und Strauß ein. Die FDP-Minister traten zurück, Strauß wurde gefeuert (um in der Großen Koalition vier Jahre später wieder am Kabinettstisch zu sitzen), Adenauer musste einem verbindlichen Rücktrittstermin zustimmen.

Deshalb stand am Ende der Affäre nicht ein erneutes Gefühl der Bitternis, sondern die Hoffnung, künftig durch außerparlamentarische Arbeit Einfluss nehmen, die Tür zum Bonner Regierungstreibhaus aufstemmen zu können. Deshalb ist die Spiegel-Affäre mit der wenige Jahre später eklatierenden Studentenbewegung verbunden, trotz gänzlich veränderter politischer Koordinaten und auch neuer Akteure. Die damaligen Aktionen hatten einer demokratischen Öffentlichkeit gezeigt, dass Proteste lohnen.

Liest man heute noch einmal den Artikel „Bedingt abwehrbereit“ durch, so findet sich neben einem schwer erträglichen militaristischen Jargon, neben einem eigentlich unerheblichen Bericht über das zutage getretene Manöverchaos ein erbitterter Linienkampf innerhalb der westdeutschen Politikelite. Es ging darum, ob Strauß mit seiner Linie, die Bundeswehr bis auf die unterste Ebene hinab mit „taktischen“ Atomwaffen auszurüsten, durchkommen würde. Oder ob die gerade neu beschlossene Linie des amerikanischen Pentagons obsiegen würde, die vorsah, die konventionellen Truppen im deutschen Grenzgebiet zum sowjetischen Hegemonialbereich zu verstärken, einen eventuellen sowjetischen Vorstoß aufzuhalten und Zeit für Verhandlungen zu gewinnen – die Linie der flexible response, die Atomwaffen erst in zweiter Linie einsetzen wollte.

In dieser Auseinandersetzung neigte der Spiegel der neuen Linie des Pentagons zu. Verteidigungsminister Strauß hingegen wollte angesichts des heraufbeschworenen sowjetischen Angriffs auf den sofortigen Nuklearkrieg und die „nukleare Einbindung“ der USA in einem europäischen Kriegsszenario setzen. Bedenkt man, dass die Spiegel-Affäre auf dem Höhepunkt der Kubakrise und der damit verbundenen akuten Gefahr eines Atomkriegs spielte, so gewinnt sie nachträglich eine schaurige Bedeutung, die – unter gänzlich gewandelten Bedingungen – auf den Kampf um die Stationierung von Pershing II und SS 20 auf dem Boden der Bundesrepublik beziehungsweise der DDR zu Beginn der Achtzigerjahre verweist.

Lutz Hachmeister hat in seiner der Nachkriegszeit des Spiegel gewidmeten Arbeit den Oktober 1962, also den Beginn der „Affäre“, zum mentalen Gründungsdatum des Spiegel erklärt. Tatsächlich wirkte dieses Datum wie eine Wasserscheide. Erst nach dem Ende der Affäre wurde der Spiegel in seiner Selbsteinschätzung zum „Sturmgeschütz der Demokratie“, erklärte Augstein die Position seines Magazins als „liberal, im Zweifel links“.

Dass nach 1962 eine ganze Generation kritischer Menschen den Spiegel allwöchentlich hungrig verschlang, war eine Folge dieses Gründungsmythos. Er wirkte fort, wie alle Mythen fortwirken, selbst wenn die letzten Spuren des Ursprungsereignisses unsichtbar geworden sind. CHRISTIAN SEMLER