Lehrer, Sisyphos der Schule

Lehrer zu sein, bedeutet einen unmöglichen Job zu machen: Schüler anerkennen zu wollen – sie aber in einem Auslesesystem demütigen zu müssen. Schule konditioniert darauf, Zertifikate zu ergattern, statt den eigenen Fragen an die Welt nachzugehen

VON FRANK NONNENMACHER

Die Schule und ihr eigentümliches System sind ins Gerede gekommen. Das ist gut so, denn dafür gibt es viele gute Gründe. Die jüngsten bestehen in der Forderung von Soziologen und Leitartiklern linksliberaler Zeitschriften, die Schule solle doch niemanden zurücklassen und stattdessen eine „Kultur der Anerkennung“ etablieren.

Was aber bedeutet dieser Begriff im Zusammenhang mit Lehr- und Lernprozessen? Zunächst einmal dies: In einer Kultur der Anerkennung wird dem Menschen ein originäres Interesse zugesprochen, die Welt und die Gesellschaft, in der er lebt, zu verstehen. In der Auffassung der europäischen Aufklärung ist der Mensch autonomes und erkenntnisfähiges Subjekt. Er besitzt eine natürliche Neugier, selbst nach Erklärungen zu suchen. Die Didaktik der Sozialwissenschaften macht diese Philosophie zum Ausgangspunkt der Lehrerbildung. Wir analysieren Unterricht vor diesem Hintergrund. Wir kritisieren eine weithin herrschende Unterrichtskultur, die immer noch von plattem Behaviorismus geprägt ist. Subjektwissenschaftliche und anerkennungstheoretische Lerntheorien hingegen werden oft nicht zu Kenntnis genommen oder als „nicht für die Schulpraxis geeignet“ bezeichnet.

Schon kleinen Kindern, die voller Neugier und Erkenntnisbedürfnis in die Schule kommen, wird nach kurzer Zeit klar: Hier geht es nicht um mich und mein Interesse, die Welt zu verstehen, um meine Lerngründe, um meine Fragen an die Welt. In der Schule geht es um die Antworten auf vorgegebene Fragen, um Antworten, welche die Lehrerin und der Lehrer längst kennt. Lernen wird zum Unterricht; nicht Denken wird gelernt, sondern bereits Gedachtes. Unterricht wird zur Ratestunde. Wer dabei richtig liegt, erhält Gratifikationen in Form von Sternchen, Lob, guten Noten und Zeugnissen. Dabei werden Schüler auf eines konditioniert: In Konkurrenz zu anderen Schülern ergatterte Zertifikate sind die eigentlichen Lerngründe. Ohne sie wäre Lernen grundlos.

Bildungsadministrationen stecken heute viel Geld in die Fortbildung von LehrerInnen. Sie sollen „Methodentraining nach Klippert“ üben – und zufrieden sein, wenn eine Schulklasse bei beliebigen Inhalten mit Spaß bei der Sache ist. Die Sache selbst ist nicht mehr näher begründungsbedürftig. Gelernt wird etwas, weil es eben dran ist und für die nächste Prüfung wichtig. Dieses Auf-die-Prüfung-Lernen macht die eigentümliche Struktur des Schulsystems aus. Es fußt gerade nicht auf der Anerkennung des Einzelnen mit seinen individuellen Interessen. Und es ist nicht an der Entfaltung seiner Weltsichten interessiert. Vielmehr stellt es ein System dar, das die Gesellschaft sich leistet, um Statuszuweisungen formal zu begründen.

Bei der notwendigen Gratifikationsvergabe in Form von Noten und Aufstiegsberechtigungen wird auch eine besondere Art der Anerkennung etabliert – allerdings nur für jene, die in den permanenten Notenwettbewerben in der Schule die Gewinner sind. Dazu zählen diejenigen, die „überm Strich“ sind und sich für ihren Fleiß angeblich zu Recht zu den „Erfolgreichen“ zählen. Dabei produziert das System unablässig aber eben nicht nur die Gewinner, sondern zugleich als unverzichtbares Komplement die Verlierer, die Versager und Gedemütigten.

Das alles ist durchaus bekannt, wird aber in der deutschen Variante besonders intensiv betrieben. Kaum ein Land setzt seine Jugend schon so früh und intensiv unter Druck wie das deutsche. Jede GrundschullehrerIn kennt die angstvoll und besorgt nachfragenden Eltern schon in der zweiten Klasse, ob der Sohn oder die Tochter denn auch die Statuspassage nach dem vierten Schuljahr bestehen wird. Kommt eine Gymnasialempfehlung heraus?, lautet die bange Frage von Anfang an. Jede Lernkontrolle, jede Klassenarbeit ist schon bald ein Quell von Hoffnungen – oder von Ängsten. Für die Betroffenen sind das Anerkennungs- oder Demütigungserfahrungen. Die Gauß'sche Normalverteilung sorgt dafür, dass das Ganze als gerechter und natürlicher Ausleseprozess daherkommt.

Selbst wenn man in der Königsklasse der Gesellschaft, dem Gymnasium, gelandet ist, hört der Prozess der permanenten Dualität von Anerkennung und Demütigung ja nicht auf. Auch innerhalb jedes Zweiges des schulischen Drei-Klassen-Systems wird sie weitergeführt. In der Folge des Pisa-Schocks werden nun verblüffenderweise die aktuellen Debatten nicht um die Folgen dieses Systems der systematischen Produktion von Abwertungserfahrungen geführt, im Gegenteil: Unter der Überschrift, die Leistungsfähigkeit des Systems zu erhöhen, werden landesweite Leistungsvergleiche schon in der Grundschule angesetzt. Im Laufe der Sekundarstufe kommen der Hauptschulabschluss, die so genannte „mittlere“ Reife hinzu, landesweite Abschlussprüfungen fürs Abitur sowieso. Permanente Leistungsüberprüfungen erhöhen möglicherweise die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler, Leistungsüberprüfungen durchzustehen. Aber sie orientieren die Lernprozesse nicht auf den ursprünglichen Sinn von Bildung im Sinne des subjektwissenschaftlichen Lernens – auf die aktive Teilnahme der Schüler. Stattdessen nehmen sie schmerzvolle Nebenwirkungen in Kauf.

In den Kultusministerien, Redaktionen und den Talk-Shows wird bald jeden Tag über die Krise des Bildungssystems geredet. Nicht selten von jenen, die sämtlich Profiteure des ausgrenzenden Schulsystems sind. Wissen die Debattierer eigentlich, was in einem 14-jährigen Hauptschüler vor sich geht, der in einem ohnehin als drittklassig deklarierten Zweig die Erfahrung macht, dass er trotzdem immer wieder zu denen „unterm Strich“ gehört? Nicht verwunderlich wäre es, wenn aus dem Weltmeisterland der Bildungsselektion noch viel mehr Wut und Aggression nach außen träte; vermutlich aber hat es dasselbe System mit Erfolg vermocht, dass die so Gedemütigten das Resultat ihrer Ausgrenzung auch noch als gerecht empfinden.

Aber warum müssen wir Deutschen es denn nun mit der Auslese gar so krass treiben. Auch die „Schule für alle“ schafft es doch, unterschiedliche Schulabschlüsse zu produzieren – ohne Kinder gar so früh in die Konkurrenz mit ihresgleichen zu treiben. Ein starke Vermutung geht dahin, dass diejenigen, die die Macht hätten, den öffentlichen Diskurs entsprechend zu lenken, letztlich kein Interesse an einem demokratischen Schulsystem haben. Sie hoffen ganz einfach, dass sie (als Politiker, Elternbeiräte, Kultusminister, Manager und Chefredakteure) und vor allem ihre Kinder als die Profiteure eines Systems mit demokratischem Defizit nach wie vor zu den Auserwählten zählen werden. Als vermeintliche Elite.

Gewiss, gerade die universitäre Lehrerbildung arbeitet an Modellen, die der herrschenden Konkurrenzkultur des schulischen Lernens etwas entgegensetzen wollen. Gewiss kann man projektorientiert und interdisziplinär lernen. Gewiss kann man, statt Stoffpläne abzuarbeiten, von aktuellen Fällen, Problemen und Konflikten ausgehen. Gewiss kann man gemeinsam mit der Lerngruppe Fragen entwickeln, anstatt die verlogene Lehrerfrage zu kultivieren. Gewiss kann man ins Zentrum dieser Projekte Recherche, Erkundung und Informationsbeschaffung in selbstständigen kleinen Schülerteams stellen.

Gewiss kann das Ergebnis eines solcher Projektes nach der – auch öffentlichen – Präsentation rückblickend kritisch bewertet werden. Ein solidarisches feed-back, auch eine externe Evaluation, die nicht in Konkurrenz treibt, sondern Stärken und Schwächen des kollektiven Prozesses benennt, ist mit diesen Ansätzen gewiss vereinbar. Dies propagieren wir, und wir arbeiten auch so in den Grundkursen der Politiklehrerausbildung.

Schule ist aber leider nicht in erster Linie dazu da, den in ihr versammelten Subjekten zu Aufklärungs- und Selbstaufklärungsprozessen zu verhelfen. Vielmehr ist Schule in erster Linie eine ausgeklügelte Sortierungsmaschine, die den Menschen auf einen bestimmten Platz stellt. Je nach Konjunkturlage ist dieser Platz mehr oder weniger komfortabel. Das Ergebnis hat man zu akzeptieren. Pädagogen nennen das die Allokationsfunktion der Schule.

Was bleibt als Fazit: Die Schule ist keine demokratische Institution. Daran ändern auch alle mit viel Geld gestarteten Projekte nichts. Es geht in ihr nicht um Gleichheit, sondern um Selektionsprozesse. Da sollte man auch keine Scheu haben, das böse Wort zu benutzen. Noch ist weltweit niemandem ein Ersatz für die Schule zur Erfüllung der „Allokationsfunktion“ eingefallen. Insofern kann man auch nicht plausibel fordern, wie es die taz (15. 12. 2006) getan hat, es sei „an der Zeit, dass wir die Schule als Ort der Demokratie wiederherstellen“. Denn ein solcher Ort war die Schule nie.

In jeder Schule arbeiten Menschen und Demokraten an emanzipatorischer und aufklärerischer Bildung. Für sie bedeutet das, dass sie als Pädagogen in einem unauflöslichen Widerspruch gefangen sind, dem sie nicht entrinnen können. Schon Siegfried Bernfeld wusste, dass es dazu der Mentalität des Sisyphos bedarf: für die Demokratie zu erziehen in einer Institution, deren Existenz zwar demokratisch legitimiert ist, in der aber demokratische Spielregeln nicht gelten. Lehrer müssen also etwas im Grunde unmögliches leisten: die Schule zu einem Ort der gegenseitigen Anerkennung machen wollen – während sie qua System die SchülerInnen in Konkurrenz zueinander treiben. Und dabei ihren Schülern systematisch die Anerkennung versagen.