Kanzlerin Merkel will auch aussteigen

Bundeskanzlerin Merkel bekennt sich in einem Interview ungewöhnlich deutlich zum Atomkonsens und verneint auch die Entsorgungsprobleme der Atomkraft nicht. Fünf europäische AKWs wurden zum Jahreswechsel abgeschaltet

Es ändert nichts am Ausstieg, „wenn man jeden Morgen einmal darüber spricht“ Merkel: „Man muss ehrlich sagen, die Entsorgungsfrage ist bis heute nicht gelöst“

VON BERNWARD JANZING

Offiziell gaben sich die Atomkonzerne RWE und EnBW gestern unberührt von den jüngsten Äußerungen der Bundeskanzlerin. Doch faktisch ist inzwischen kaum noch vorstellbar, dass es eine Laufzeitverlängerung für die beiden Atommeiler Biblis A (RWE) und Neckarwestheim 1 (EnBW) geben wird. Denn Angela Merkel hatte sich in einem Interview in bisher nicht gekannter Deutlichkeit hinter den Atomkonsens gestellt.

Gegenüber der Financial Times Deutschland hatte Merkel erklärt, man müsse der Stromwirtschaft immer wieder sagen, dass sie den Atomausstieg unterschrieben habe: „Mit den Unterschriften und den daraus folgenden Maßnahmen im Atomgesetz müssen jetzt alle Beteiligten leben“, sagte sie. Und es ändere auch nichts daran, „wenn man jeden Morgen einmal darüber spricht“.

Das Prozedere sei „klar geregelt“, erklärte Merkel: „Der Umweltminister entscheidet, und hat dabei das Einvernehmen mit anderen Ressorts zu suchen.“ Es gebe dafür eindeutige gesetzliche Vorgaben, und an denen werde sich nichts ändern.

Da die Anträge der Atomkonzerne in sicherheitsrelevanten Fragen durchaus Interpretationsspielräume offen lassen, dürfte die klare Aussage Merkels vom Bundesumweltministerium (BMU) mit Erleichterung zur Kenntnis genommen worden sein. Offiziell hieß es im BMU lediglich, die Aussage Merkels entspreche „ganz unserer bisherigen Linie“ – und diese besteht darin, dass das Umweltministerium beim Atomausstieg die Richtung vorgibt.

Auch andere Aussagen der Bundeskanzlerin in ihrem jüngsten Interview deuten darauf hin, dass Merkel zumindest derzeit nicht geneigt ist, durch das Thema Atomkraft Unfrieden in die Koalition hineinzutragen. „Bei der Kernenergie muss man ehrlich sagen, die Entsorgungsfrage ist bis heute nicht befriedigend geklärt“, sagte die Kanzlerin. Auch der Industrie-Behauptung, dass Atomkraft für den Klimaschutz notwendig sei, trat Merkel entgegen: Es sei „nicht so, dass die Kioto-Ziele eins zu eins von der Kernenergie abhängig sind und dass man automatisch alle Kioto-Ziele verpasst, wenn man die Kernenergie reduziert“.

Der Ausstiegsfahrplan wird also weiterhin unverändert gelten, womit sehr wahrscheinlich ist, dass der Reaktor Biblis A im kommenden Jahr vom Netz muss. Vom BMU heißt es zwar, eine Vorfestlegung bei der Prüfung des betreffenden RWE-Antrags auf Übertragung von Stromkontingenten gebe es nicht, man entscheide nach Recht und Gesetz. Doch ein Weiterbetrieb scheint aufgrund der mangelnden Reaktorsicherheit kaum wahrscheinlich.

Auch für den Meiler Neckarwestheim 1, der Ende 2008 fällig ist, läuft derzeit ein Antrag auf Betriebsverlängerung. Neckarwestheim jedoch könnte sich bei Ablehnung möglicherweise noch mit einem Kunstgriff in die nächste Wahlperiode retten: Da laut Atomgesetz nicht die Laufzeit der Meiler beschränkt ist, sondern die Stromerzeugung kontingentiert wurde, könnte durch eine Minderproduktion – zum Beispiel durch verlängerte Revisionszeiten – die Stilllegung bis 2009 hinausgezögert werden.

Unterdessen wurden – von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen – zum Jahreswechsel gleich fünf europäische Atomkraftwerke für immer vom Netz genommen. Bulgarien hat die Blöcke 3 und 4 des Atomkraftwerks Kosloduj abgeschaltet, in der Slowakei wurde Block 1 des Reaktors Bohunice stillgelegt. Das Ende der Meiler erfolgte auf Druck der EU, weil der sichere Weiterbetrieb nicht mehr gewährleistet war. Darüber hinaus wurden zeitgleich in England die beiden Atomreaktoren Dungeness und Sizewell A stillgelegt. Die britischen Meiler waren 1965 und 1966 ans Netz gegangen, die osteuropäischen Reaktoren zwischen 1978 und 1982.