„Kuhn macht die Grünen überflüssig“

Die grüne Bundestagsfraktion berät in Wörlitz über die „Grüne Marktwirtschaft“. Der Linke Wilhelm Achelpöhler hält das für die falsche Richtung: Die Grünen würden zur zweiten FDP – und sich nur noch nach Ministersesseln sehnen

taz: Herr Achelpöhler, sind Sie noch in der richtigen Partei?

Wilhelm Achelpöhler: Linke haben bei den Grünen keine Mehrheit, stimmt. Aber ich will ja auch nicht unbedingt wiedergewählt werden wie die grünen Bundestagsabgeordneten …

die gerade in Wörlitz tagen und dort auch über das 43-seitige Papier „Grüne Marktwirtschaft“ von Fraktionschef Kuhn beraten. Was war Ihr Eindrück bei der Lektüre?

Die Vision in diesem Papier erschöpft sich in der Sehnsucht nach einem Ministersessel.

Aber das Papier enthält doch viele ur-grüne Forderungen.

Klar. Die Grundsicherung oder die Bürgerversicherung sind richtige Forderungen. Aber um das Fleisch des Textes geht es nicht, sondern um die marktliberale Soße. Niemand würde dieses Papier diskutieren, wenn es nicht die ersten Seiten gäbe, die nur ein Signal aussenden: Wir lieben den Kapitalismus.

Was ist daran so schlimm?

Es wird suggeriert, dass der Markt alle Probleme löst – und wenn nicht, dann liegt es angeblich daran, dass die Grünen nicht regieren. Das ist doch totaler Quatsch. Zum Beispiel BSE: Die Bauern produzieren billig, die Kunden kaufen billig. Wenn sich alle marktwirtschaftlich verhalten, werden alle verrückt.

Und daraus folgt?

Jeder Fortschritt muss gegen die Marktgesetze durchgesetzt werden – nicht mit ihnen. Ob bei der Atomenergie, bei der Massentierhaltung oder der Ökosteuer.

Auch die Gruppe um Kuhn fordert einen „selbstbewussten Staat“, der den Markt steuert.

Sonst wären die grünen Funktionsträger im Bundestag ja auch überflüssig, wenn der Markt allein funktionieren könnte.

Momentan sind die Grünen in keiner Landesregierung vertreten. Da bleiben doch nur Bündnisse mit der CDU und vielleicht der FDP, die Kuhn jetzt möglich machen will?

Natürlich haben die Grünen das Gefühl der Ohnmacht. Aber es ist ein Irrglaube, dass man sich durchsetzt, wenn man zu allem Ja sagt. Man hat keinen Einfluss, wenn man nur bestätigt, was sowieso passiert. Oder wie der Philosoph Günter Anders es formuliert hat: Befiehl das Seiende und deine Autorität wird unangreifbar bleiben.

Wer ökologisch orientiert ist, wählt sowieso die Grünen. Jetzt versuchen die Realos, noch zusätzliche Wähler im bürgerlichen Lager zu gewinnen. Das ist doch taktisch naheliegend?

Diese Taktik bringt überhaupt nichts, weil alle Parteien so agieren. Es wäre überraschend, wenn die FDP nicht mit einem Papier „ökologische Marktwirtschaft“ kontern würde. Damit wäre dann die Konvergenz der beiden Parteien komplett erreicht. Kuhn arbeitet daran, die Grünen überflüssig zu machen.

Viel Widerstand gegen diesen Kurs ist bei den Grünen aber nicht zu erkennen.

Das Papier wird ja auch konsequent der parteiinternen Diskussion entzogen. Auf dem letzten Parteitag in Köln war es nicht Thema. Auch auf der Klausurtagung von Wörlitz wird es nur diskutiert, aber nicht beschlossen.

Kann man es dann nicht einfach ignorieren? Als Privatmeinung von neun Bundestagsabgeordneten?

Genau das denken viele Linke: „Ach Gott, das müssen wir doch nicht hochziehen.“ Wir kochen das Papier jetzt mal runter, damit es gar nicht erst wichtig wird. Aber damit gibt sich die Linke ein bisschen selbst auf.

Inwiefern?

Mit dem Papier wird praktisch Politik gemacht, wird das Profil der Außenwahrnehmung geprägt. Die Bundestagsfraktion spielt auf Zeit; sie weiß, dass sie einen großen Teil des Personals stellt und niemand an ihr vorbeikommt. Sie will langfristig den nächsten Wahlkampf prägen.

Und das scheint bestens zu gelingen.

Viele Linke haben leider eine gewisse Scheu, den Kapitalismus offensiv zu diskutieren.

Vielleicht ist er ja auch besser als sein Ruf?

Nur ein Gegenbeispiel: In Deutschland brauchen wir etwa 2 Prozent Wachstum, damit es nicht mehr Arbeitslose gibt. Diese Wachstumsraten erreichen wir aber nur selten. Das bedeutet: Wenn es normal läuft, läuft es gegen die Leute. Unsere Wirtschaftsverfassung führt im Normalbetrieb zur Verarmung. Doch an solchen Zusammenhängen hat das Papier keinerlei Interesse, stattdessen wird einfältig das Loblied auf den Kapitalismus gesungen.

Und Ihre Alternative?

Im Kapitalismus geht es um das maßlose Wachstum von Geld. Dabei wird vergessen, dass wir für unsere Bedürfnisse produzieren, nicht für den Profit.

Das klingt wie eine Traumwelt.

In einer Traumwelt leben jedenfalls die Grünen im Bundestag. Sie singen das Loblied auf den selbstbestimmten Bürger und ignorieren komplett die Eigentumsverhältnisse: Die meisten machen Lohnarbeit – das ist das Gegenteil von selbstbestimmt.INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN