Depressionen aus Hannover

Ein Gesprächsrundgang durch die heimliche Hauptstadt der Schwermut

Desolater als im trüben Stadtteil Hannover-Linden kann eine Stimmung kaum sein

In Berlin finden zur Zeit die „Psychiatrie-Tage“ zum jahreszeitgemäßen Thema „Depression in Berlin“ statt. Doch was ist schon Berlin? Wenn es um Depressionen geht, liegt doch Niedersachsen und eine Frage viel näher: Wird Hannover auch in diesem Jahr wieder heimliche Hauptstadt der Depression? Eine Frage, die wir unserem Wahrheit-Reporter Fritz Tietz stellen, der sich, dies zu überprüfen, in die niedersächsische Metropole gewagt und hoffentlich genügend Antidepressiva eingesteckt hat. Oder hat er etwa schon ein paar von den bunten Tröstern einwerfen müssen, Herr Tietz? Hallo, Herr Tietz?

Fritz Tietz: Bisher nicht, Gott sei Dank. Noch hat die bedrückende Januarstimmung in Hannover die historische Schwermut des Vorjahrs nicht erreicht. Doch keine Sorge. Falls es schlimmer wird, stehen mir einige schnell wirkende seelische Aufheller zur Verfügung …

Nützt doch alles nichts!

Hah, und da hat er sich auch schon selbst ins Gespräch gebracht, mein Gesprächspartner: Herr Oliver Schmollbröchen, Oberst der hannöverschen Depressivengilde „Schwermütige Jungs“ aus Hannover-Linden.

Korrekt!

Dem Stadtteil bekanntlich mit den wohl schwersten Depressionen, die Hannover zu bieten hat.

Das kann man wohl laut sagen. Linden ist Notstandsgebiet.

Nun, im Moment scheint es gar nicht so traurig zu sein hier, Herr Schmollbröchen. Ich jedenfalls kann nichts sonderlich depressiv Stimmendes …

Aber entschuldigen Sie bitte! Schauen Sie doch nur mal. Hier auf dem Gehweg: dieses angebissene und weggeworfene Mettbrötchen. Und da hinten! Der so bemitleidenswert zerfetzte Herrenregenschirm: Achtlos fortgeworfen liegt er da inmitten der so grauenvoll entblätterten Koniferen.

Entblätterte Koniferen, Herr Schmollbröchen?

Auch die demolierte Telefonzelle gegenüber samt dem so jämmerlich an seiner Schnur hin und her pendelnden Telefonhörer. Und jetzt fängt da auch noch dieses Martinshorn an zu lärmen. Also wirklich. Desolater kann eine Stimmung kaum sein.

Nun, wer könnte das besser beurteilen als Sie, Herr Schmollbröchen – der Sie ja als Langzeitdepressiver gewissermaßen vom Fach und zudem, wie schon erwähnt, Oberst der Depressivengilde „Schwermütige Jungs“ sind – zu denen ja, wenn ich richtig informiert bin, neuerdings auch ein paar trübsinnige Mädels zählen?

Das ließ sich leider nicht länger vermeiden. Die vielen toten Kameraden, meine Güte, alle Mann aufgehangen im letzten Jahr. Da mussten wir personell dringend aufstocken. Und das ging leider nur über die Aufnahme von ein paar, allerdings ausgewiesen trübsinnigen Damen; von denen im Übrigen auch schon wieder mindestens eine ausgeschieden ist – suizidbedingt, versteht sich.

Womit sie mir das nächste Stichwort liefern, Oberst. Sie sind ja zuständig auch für die Beratung ihrer suizidbereiten Kameraden.

Korrekt! Sehen Sie, wir Depressiven neigen ja dazu, uns mitunter sehr spontan das Leben zu nehmen; erst recht in diesen tristen Wintertagen. Leider überstürzen es da aber manche und hängen sich kurzerhand am nächsten Dachbalken auf.

Dabei haben Sie hier so schöne Bäume.

Korrekt! Die alten Pappeln unten am Leineufer etwa. Wer sich da – ich sag jetzt mal bewusst etwas pathetisch – nach alter depressiver Väter Sitte aufzuhängen die Zeit nimmt, nicht wahr, tut dies auf jeden Fall mit einem trostlosen letzten Ausblick auf die trüben Auen. Sieht dann unter Umständen noch mal die bedrückenden Nebel am Ufer aufsteigen. Hört vielleicht ein letztes Mal einen alten Erpel kawättern … na ja, und dann? Schluss, aus, vorbei, und man merkt hoffentlich gar nichts mehr.

Und dann müssen Sie aber schon wieder ran und die Sache in die Hand nehmen.

Richtig. Ich schneide die Toten ab. Exakt eine halbe Handbreit oberhalb vom Knoten, wie es das Gilde-Statut vorschreibt.

Ich nehme an, Oberst Schmollbröchen, es sind bei diesem, nun ja, kameradschaftlichen Ehrenakt noch andere Gildemitglieder anwesend, die den Leichnam unten halten, ihn vorsichtig zu Boden gleiten lassen, um die Würde des Toten …

Ach i wo! Ich lass die Leichen immer einfach so auf den Boden knallen. Schaun Sie, wenn einer tot ist, spürt er doch nichts mehr.

Dafür spüre ich jetzt doch zusehends etwas von der hannöverschen Melancholie in mir aufsteigen. Nicht von ungefähr fällt in diesem Moment mein Blick auf ein Veranstaltungsplakat, das einen Diavortrag zum Thema Hautkrankheiten ankündigt. Nun, da dürfte doch allerhand zu sehen sein, was garantiert traurig macht, oder Oberst Schmollbröchen?

Normal ja. Ich gehe heute aber lieber auf den traditionellen Depressivenball der SPD draußen auf dem echt üblen Messegelände. Da herrscht schlechte Laune pur, garantiert keine Stimmung. Und bei der Tombola gibt’s ausschließlich Nieten.

Wir danken Ihnen für das Gespräch. FRITZ TIETZ